: Zombies aus dem Grab der Ideen
In Deutschland ist noch jede gesellschaftspolitische Reform auf halber Strecke verendet. An allen Fronten sammelt sich eine große Koalition zur Verteidigung ihrer Privilegien
Der Korrespondent einer durchaus konservativen britischen Tageszeitung meinte kürzlich in einem Gespräch: Was ihm an Deutschland wirklich auf die Nerven gehen würde, das seien die ewig gleichen, folgenlosen Debatten. „Ich bin seit 13 Jahren hier und hatte schon meine vierte Patriotismusdebatte – und mindestens ebenso viele über das Thema Kinderbetreuung.“ Auf die Frage, ob sich denn auch etwas verändert habe, zuckte er resigniert mit den Schultern: „Die Debatten haben sich beschleunigt.“
Zur Zeit kann man erleben, dass diese Beschleunigung nicht etwa mit neuen Vorschlägen einhergeht, sondern immer abgestandenere Auffassungen zutage fördert. Es ist, als hätten sich die Gräber der Ideen geöffnet und heraus strömen die Zombie-Vorstellungen der Gegenemanzipation. Je reaktionärer man sich gebärdet, desto größer die mediale Aufmerksamkeit. Eva Herman und Bischof Mixa singen gemeinsam das Hohelied der Frau hinter dem Herd, sekundiert von Sachsens Kultusminister Steffen Flath, den Kinderkrippen an den Kommunismus erinnern. Gender-Mainstreaming, so heißt es in der FAZ, sei eine Art totalitäre Philosophie der Umerziehung von Jungs in Mädchen. Wie man seine Kinder richtig erzieht, das erfährt man wiederum aus dem Buch eines Internatsdirektors: „Lob der Disziplin“.
Wenn es um Einwanderung geht, dann darf heute wieder über „Integration“ schwadroniert werden, als habe es seit den 1970er-Jahren überhaupt keine neuen Ansätze gegeben. Sowohl die Problemagenda als auch die Lösungsansätze sind die gleichen wie vor 30 Jahren. Auch beim Thema RAF schnappen die Reflexe der Vergangenheit mit solcher Heftigkeit ein, als seien die Anschläge erst gestern geschehen. Und wer gedacht hatte, dass zumindest der Atomausstieg unter Dach und Fach sei, der sieht sich getäuscht: Es gibt nicht eine richtungsweisende Entscheidung, die im deutschen Korporatismus nicht doch wieder unterhöhlt oder gar rückgängig gemacht werden kann.
Wer sich für fortschrittlich hält, der tut jedoch so, als sei Deutschland das bessere Amerika. „Erfolg kennt keine Klischees“, behauptet Ulf Poschardt im Editorial von Vanity Fair. Das Heft beweist eher das Gegenteil: etwa, wenn der adelige Alexander von Schönburg, Bruder von Gloria von Thurn und Taxis, den ebenfalls adeligen Oscar-Gewinner Florian Henckel von Donnersmarck porträtiert.
Schönburg verschweigt nicht, dass die Familie des Preisträgers eine der reichsten des Deutschen Reiches gewesen sei, aber: „Nach dem Krieg war alles perdu.“ Dass die deutschen Eliten nach dem Krieg mit nichts angefangen hätten, ist ein Mythos der 50er-Jahre. Doch 2007 ist es nun wieder so weit, dass man den Verhältnissen tatsächlich wieder „Wenn der Senator erzählt“ von Franz-Josef Degenhardt vorspielen könnte. Darin wurde vor 40 Jahren sarkastisch besungen, wie der „Senator“ nach der Währungsreform 1948 „wie jeder von uns“ dastand mit nur 40 Mark und wie er die in einer Nacht auf den Kopf haute. Zum Glück hatte er aber noch seine drei Hüttenwerke.
Was passiert da eigentlich gerade? Ist das, was wir gerade erleben, so etwas wie der Angriff der deutschen „Neocons“, eines neuen Konservatismus? Das wäre weit übertrieben. In den USA sind jene „Neocons“ ein identifizierbarer Kreis von Leuten mit einer durchaus benennbaren politischen Agenda – davon gibt es hierzulande keine Spur. Die neuen Reaktionäre in Deutschland unterscheiden sich nach Alter und Geschlecht und stoßen auch keineswegs ins gleiche Horn. Es handelt sich eher um so etwas wie eine große Koalition zur Verteidigung von Privilegien. Um ein Amalgam aus Revanchismus, Traditionalität und Realitätsverleugnung. Nun könnte man sagen: Das sind doch die letzten Abwehrkämpfe einer untergehenden Schicht – überall in Westeuropa werden längst andere Wege beschritten. Doch diese Auffassung übersieht, wie quälend langsam in Deutschland Veränderungen vor sich gehen – und wie wirksam die Widerstände sind.
Noch ist jede Reform in Deutschland auf halber Strecke verendet. Das schlagendste Beispiel sind wahrscheinlich die Bemühungen um eine Bildungsreform. Heute sprechen viele gern mit Abscheu über die Auswüchse der „antiautoritären Erziehung“ und denunzieren die Gesamtschule als gescheitertes Experiment auf Kosten „unserer Kinder“. Dabei tut man so, als hätte die Reform längst stattgefunden und müsste korrigiert werden. Tatsächlich aber ist nur ganz selten mit den Prinzipien der „selbstregulativen Erziehung“ gearbeitet worden. Und die Gesamtschule hat unter dem Druck der Reformgegner intern das dreigliedrige Schulsystem wieder eingeführt, wodurch das ganze Anliegen bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurde.
Freilich hat sich die Richtung der Veränderungen im Nachhinein als völlig richtig erwiesen. Wie würde wohl die Bundesrepublik heute bei Pisa abschneiden, wenn man damals konsequent gewesen wäre? Mehr Verantwortung für die Kinder und langes gemeinsames Lernen trotz Leistungsunterschieden sind genau die Rezepte, die Ländern wie Finnland einen Spitzenplatz eingebracht haben.
Gerade in ehedem linken Kreisen gehört es heute zum guten Ton, sich gegenseitig für die Errungenschaften der Revolte von „68“ zu beglückwünschen. Und zweifellos hat die damalige Stimmung eine Entwicklung zu mehr Liberalität in Deutschland bewirkt.
Aber auf der Ebene der Institutionen ist die Bilanz von „68“ ziemlich ernüchternd. Es gibt eigentlich keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem eine damals angestoßene Veränderung zu einer ernsthaften und nachhaltigen Reform geführt hat. Durch die penetranten Widerstände gibt es in den hiesigen Institutionen heute eine Gleichzeitigkeit der unterschiedlichsten Entwicklungsstufen. Zunächst wird etwas vorangetrieben, dann gebremst. Schließlich gibt es einen faulen Kompromiss, mit dem alle zufrieden sein müssen. Am Ende hat man nicht mehr als eine lose zusammenhängende Mischung aus allem Möglichen.
Nun steht es außer Zweifel, dass die Gesellschaft unter immensem Reformdruck steht. An einer Bildungsreform wird das Land nicht vorbeikommen – und auch nicht an der Gestaltung von Vielfalt. Das bedeutet auch, dass männliche, heterosexuelle Einheimische ihre bisherigen Privilegien verlieren. Angesichts der aktuellen Reflexe und Wirklichkeitsverkennungen fragt man sich aber doch ziemlich ratlos, wie diese Veränderungen eigentlich bewerkstelligt werden sollen. Zumal die Unzufriedenen und Reformwilligen zwar in großer Zahl vorhanden sind – aber leider schweigen.
Es wäre furchtbar, in der Zukunft weiter mit den Gespenstern der Vergangenheit zusammenleben zu müssen. Um dann, viel später, im Jahre 2037, vielleicht sogar die eigenen Kinder debattieren zu sehen – etwa über die Einführung von Kinderkrippen und eine Erziehung zur mehr Eigenverantwortung. Was hätte man ihnen zu sagen über 2007? MARK TERKESSIDIS