: Bürokraten in der Produktion
AUS BRÜSSEL UND MAINZ DANIELA WEINGÄRTNER
Ein paar Tage nach ihrem Ausflug in den Produktionsalltag sitzt Laurence Cordier wieder in ihrem kleinen Büro in Brüssel. Auf dem Fußboden stapeln sich Aktenordner. Viel Arbeit ist liegen geblieben in der Woche, die sie in Mainz und Frankfurt unterwegs war, beim „Praktikum“ in zwei Chemiefirmen. Die 45-jährige Französin ist bei der EU-Kommission für Chemikaliengesetzgebung zuständig. „Nicht für die neue Chemikalienverordnung REACH“, wie sie betont. „Es gab ja auch vorher schon ein Chemikalienrecht.“ Eine bessere Botschafterin hätte Industriekommissar Günter Verheugen kaum finden können, um das Image seiner als praxisfern geltenden Behörde aufzupolieren (siehe Kasten).
Schutzbrille und Arbeitsjacke passen ebenso zu ihr wie der schlichte schwarze Pullover, den sie an diesem Morgen trägt. Fragt man die Juristin, welcher Moment aus der Woche in den deutschen Betrieben ihr besonders in Erinnerung geblieben ist, verrät die Antwort viel über ihren Blick auf die Arbeitswelt: „Als ich fragte, ob sie nicht überlegt hätten, die Produktion mit Cyanurchlorid wegen der hohen Investitionskosten aufzugeben, da antworteten sie mir: Davon leben doch 18 Leute!“
Im Besprechungsraum von INEOS Paraform in Mainz-Mombach war das. Die Mitarbeiter hatten mit dem Gast aus Brüssel um den großen Konferenztisch gesessen. An die Wand hatten sie ein einfaches Schaubild geheftet, das die bürokratische Bürde deutlich machen sollte, die auf ihrer Arbeit lastet. Das Kürzel EG für Europäische Gemeinschaft kam fast in jeder Zeile vor: 12. Binnenschiffverordnung/96/82/EG, EG Luft, Gefahrstoffverordnung 99/33/EG. Aber auch Ergüsse aus nationalen Amtsstuben fanden sich in großer Zahl auf dem Schaubild: Bundesemissionsschutzverordnung, TA Luft, Baustellenverordnung, Störfallverordnung …
250.000 Euro habe die neue Lagerhalle für Cyanurchlorid gekostet, hatte der Mitarbeiter gerade erläutert. Sie war nötig geworden, weil der Stoff von der EU-Kommission plötzlich zwei Gefahrenklassen höher als „sehr giftig“ eingestuft wurde und damit strengere Auflagen bekam. Eine solche Investition ist kein Pappenstiel für ein Unternehmen mit 65 Millionen Euro Jahresumsatz. Doch die Produktion wurde nicht eingestellt. 18 der 148 Arbeitsplätze im Werk hängen an diesem Produktionszweig.
Die Familienbindung an den Betrieb ist eng. Manche arbeiten hier schon in der dritten Generation. Der industriellen Revolution, dem Anschluss von Mainz ans europäische Eisenbahnnetz verdankte das Werk im 19. Jahrhundert seinen Aufschwung. Zwischen Rangiergleisen und Hafenanlagen stand es lange allein auf weiter Flur. Inzwischen sind die Reihenhäuschen bis an die Zäune des Betriebsgeländes herangewachsen. Auf der anderen Straßenseite wurde eine große Veranstaltungshalle gebaut. Deshalb bemüht sich INEOS um das Image des netten Nachbarn. Schulklassen sind häufig zu Gast, der Kontakt zum Ortsvorsteher ist eng. Eine Katastrophe wie in Seveso, so lautet die Botschaft, wird es in Mombach nicht geben. Der eigene Eisenbahnanschluss spielt noch heute eine wichtige Rolle für das als „Störfallbetrieb“ eingestufte Unternehmen. Ammoniak zum Beispiel darf in Deutschland in großen Mengen nicht auf der Straße transportiert werden. Deshalb ruckelt die betriebseigene Lok jeden Tag auf ein Nebengleis der Bahn, wo schon der Ammoniaktankwagen wartet. Er wird von Hand angekoppelt, die Weiche mit einem Stab umgelegt – wie bei der Spielzeugeisenbahn.
Kleine Jungen würden hier auf ihre Kosten kommen. Aber auch Laurence Cordier scheint die Sache Spaß zu machen. In den schweren Arbeitsschuhen, die auf dem Gelände Vorschrift sind, klettert sie zum Führerstand hoch und lässt sich den Ablauf bis ins Detail erklären. Wenn das Ammoniak in die Werkstanks gefüllt wird, gilt es sechs Sicherheitsvorschriften zu beachten. Benedikt Gresch, den seine Visitenkarte als „Gefahrgutbeauftragten und Eisenbahnbetriebsleiter“ ausweist, demonstriert sie alle, vom Metallblock, der das Entladegleis abriegelt, bis zur Stolperleine, die bei jedem Ruck den Ladevorgang sofort unterbrechen würde.
Ja, die Auflagen. Einen guten Teil ihres Arbeitstages verbringen die Leute bei INEOS damit, all die Auflagen zu beachten – und zu kontrollieren, dass andere es ihnen gleichtun. Der junge Mann mit Pferdeschwanz zum Beispiel, der gerade einen leeren Laster auf den Hof fährt, muss an der Pforte seine Sicherheitskleidung vorzeigen, dazu Kehrblech, Sand, Feuerlöscher und die kleine Spritze, mit der er im Notfall seine Augen spülen kann. „Für diese ganzen Kontrollen brauchen wir genauso viel Zeit wie fürs Laden selber“, seufzt Gresch.
Die drei Zugangswege über Straße, Schiene und den Rhein sind zentral für das Überleben von INEOS. Die Firma könnte dem Preisdruck nicht standhalten, wenn sie zum Beispiel Methanol, von dem im Jahr 100.000 Tonnen angeliefert werden, nicht auf dem Wasserweg bekäme. Auf der Straße würde es das Dreifache kosten. Doch drei Verkehrswege bedeuten auch dreifache Sicherheitsvorkehrungen.
Fragt man den Geschäftsführer, wie Brüssel die bürokratische Bürde erleichtern soll, erhält man eine verblüffende Antwort: „Nehmen Sie mal Formaldehyd. Da schwankt die maximal am Arbeitsplatz erlaubte Konzentration von 0,1 MAK in Holland über 0,5 in Deutschland bis zu 2,5 in Großbritannien.“ Frank Lerch hofft auf ein Ende des „fröhlichen Nebeneinanders“. Er fragt: „Braucht man noch so viele nationale Regeln, wenn man doch EU-Gesetze hat?“
Weniger gut ist sein für Sonderprojekte zuständiger Mitarbeiter Peter Schalke auf Brüssel zu sprechen. Er habe in seinem langen Arbeitsleben in zu vielen Audits gesessen und immer wieder dieselben Erklärungen abgegeben, sagt der Chemiker. „Sie verlangen ständig schärfere Grenzwerte, sagen dir aber nicht, wie du sie einhalten sollst.“ Sein Wissenschaftlerenglisch ist zum Glück nicht so ausgefeilt, dass der Gast aus Brüssel jede Nuance verstehen könnte. Doch als Schalke Umweltminister Gabriel als „Idiot“ tituliert, zuckt Laurence Cordier doch etwas zusammen. Dieses Wort ist ziemlich international.
Vor 15 Jahren habe die Bundesregierung schon mal so was Ähnliches einzuführen versucht wie die jetzt europaweit beschlossene Chemikalienverordnung REACH, erinnert sich Schalke. Für den Probelauf wurde Hexamin ausgewählt. „Tests im Umfang von 50.000 Mark hieß es – und dann ist Ruhe!“ Von wegen. „Sieben Generationen von Ratten waren schon mit Hexamin gefüttert worden, ohne Krebs zu entwickeln. Doch sie wollten immer neue Rattentests.“
Das Schöne an REACH sei, erklärt Laurence Cordier, dass sich mehrere Hersteller die Kosten teilen könnten. Der Geschäftsführer nickt und sagt sarkastisch: „Zum Beispiel bei Hexamin. Da rechnen wir mit 400.000 Euro Registrierungskosten, die wir uns mit drei weiteren Herstellern teilen werden …“ Ihm sei das alles egal, meint Schalke. Er gehe demnächst in Rente.
Draußen ist es dunkel geworden, doch für Cordier steht noch ein Gespräch mit dem Marketingdirektor auf dem Programm. Fünf Tage Besichtigungen, Fragen und Antworten nonstop, Management, Personalführung, Finanzierung, Betriebsrat. Nur einmal sagt sie: „Ich glaube, ich habe meine Fragen erschöpft.“ Als ihr der Geschäftsführer in einer kurzen Mittagspause die Rheinpromenade zeigt und sie ins Biebricher Schlösschen zum Lunch führen will, wehrt sie beinah ab. Man könne doch, meint die preußische Französin, in der Kantine einen Happen zu sich nehmen. INEOS Mombach hat nur leider keine Kantine – und so landen alle am Ende eben doch in dem kleinen Schlösschen.
Da sitzen sie zusammen, die deutschen Chemiker und die EU-Juristin, und sprechen über Träume. Ulrich Schmidt, der Personalleiter von INEOS Mainz, träumt vom Weltraum. Einmal bei der ESA arbeiten, wie Cordier es zwei Jahre lang tat, wäre für ihn das Größte. Und welche Zukunftsträume hat sie selbst? Sie zögert kurz, sucht nach einer lockeren Antwort, findet keine. „Meine Träume sind sehr … bodenständig. Meine kleine Tochter … Ich wünsche mir nur ein schönes Leben für sie.“ Dabei hat sie einen Ausdruck im Gesicht, der dazu führt, dass alle schnell das Thema wechseln.
Frank Lerch wird später sagen, dass sich die Mühe gelohnt hat. Kurzfristige Wunder erwartet er sich nicht, aber vielleicht sei das Verständnis gewachsen – auf beiden Seiten. „Viele im Betrieb sehen Europa sehr kritisch. Frau Cordier war eine wunderbare Botschafterin. Die Leute konnten sehen, dass sie einen fantastischen beruflichen Lebenslauf hat, aber auch ein Mensch ist, Mutter von drei Kindern … Über die Bildschirme geistern doch nur Phantome, die prägen doch unser Bild von Europa.“
Das Kompliment kann die hoch Gelobte nur zurückgeben. Eine Woche nach der Rückkehr aus Mainz sagt sie: „All die Mühe, die sie sich gemacht haben – nur für mich allein. Es war hochinteressant, einen deutschen Traditionsbetrieb zu sehen, nicht so ein sexy IT-Unternehmen.“ Die breite Ausbildung, das Verantwortungsgefühl der Mitarbeiter für ihren Betrieb und sein Sicherheitssystem seien mit Händen zu greifen gewesen. Einzig die Frage eines deutschen Magazinjournalisten hat sie gestört. „Er wollte wissen, ob ich jetzt nach Hause fahre und die ganzen EU-Verordnungen streiche. Ich habe ihm geantwortet: Warum gibt es denn die Seveso-Richtlinie? Weil es Seveso gegeben hat!“