Alle Menschen können fliegen

PILOTPROJEKT „Der Traum vom Fliegen – The Art of Flying“ im Haus der Kulturen der Welt versteht sich als interdisziplinäres Experiment, das Kunst, Technik, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zusammenbringt

Ein wundersames, lehrreiches Nebeneinander von Maschinen, Vogelflugfilmen, Kultgegenständen und Kunstwerken

VON BRIGITTE WERNEBURG

Der englische Zweittitel der Ausstellung „Der Traum vom Fliegen“ im Haus der Kulturen der Welt heißt interessanterweise „The Art of Flying“. Das ist ein gewichtiger Unterschied und ein richtiger. Denn der Parcours handelt nur zu einem Teil vom Traum, zum anderen aber vom Fliegen, seiner Technikgeschichte und seinen Pionieren.

Zu ihnen gehört etwa Melitta Schenk Gräfin Stauffenberg (1903–1945), die als Flugzeugingenieurin Steuerungs- und Navigationsinstrumente für die Flugbootfirma Dornier entwickelte. Jüdischer Abstammung, musste sie 1936 in die weniger kriegswichtige Produktion wechseln, doch mit Kriegsbeginn wurden ihre fliegerischen Fähigkeiten wieder gebraucht. Sie erprobte die Stukas der Firma Junkers und wurde deshalb „arischen Personen gleichgestellt“. Über 2.000 Testflüge soll sie mit den auch im regulären Einsatz gefährlichen Sturzkampfbombern geflogen sein. Beim Versuch, ihren Mann mit dem Flugzeug aus der Sippenhaft der Nazis zu befreien, wurde sie am 8. April 1945 von einem US-amerikanischen Bomber abgeschossen.

Wie bei ihrer sehr viel bekannteren Kollegin Elly Beinhorn (1907–2007) entsprach die Karriere der Gräfin Stauffenberg nicht der Geschlechterordnung, die den Frauen die Rolle der „Entführten“ oder „Geretteten“, in jedem Fall aber der Geflogenen und Beförderten zuschrieb. Nun kann aber bekanntlich keine Geschlechterordnung die Frauen davon abhalten, vom Fliegen zu träumen. Also davon, ein Flugzeug zu steuern, vor allem im Sinne der Imagination, die das eigentliche Thema der Ausstellung ist, die ihre Kuratoren Thomas Hauschild und Britta Heinrich aus gutem Grund nicht etwa im Technikmuseum installiert haben.

Es geht um die Geschichte des Fliegens vor dem Fliegen. Sie illustriert eine riesige Bühnendekoration am Ende der großen Ausstellungshalle, ein blauer Himmel, durch den hübsche weiße Wolken ziehen, lustigerweise immer hin und zurück, denn sie sitzen, mit ihren menschlichen Passagieren, auf einem Wägelchen, das sich hinter der Deko bewegen lässt. Außer den Wolken ist noch allerlei anderes Fluggerät wie frühe Montgolfieren und utopische Weltallgleiter in diesem Himmel zugange.

Nur der Besen fehlt. Auf dem die Frauen von alters her durch die Lüfte reiten. Dafür gibt es gleich hinter der barocken Theaterillusion aus dem Markgräflichen Opernhaus zu Bayreuth einen Monitor, auf dem die Raketen und Feuerwerke Chinas zeigen, wie man Verbindung mit dem Himmel aufnehmen kann. Das geht auch auf dem Hochseil, wie Philippe Petit in seligen Zeiten zwischen den Türmen des World Trade Centers vorführte, ein Kapitel, das leider fehlt; das geht auch per Levitation, wie bei der schwebenden Jungfrau auf dem Jahrmarkt, aber auch bei der Heiligen und Mystikerin; oder mit einem umgebauten Damenfahrrad mit Sonnensegelpaddeln, wie es Gustav Mesmer (1903–1994), ein wichtiger Protagonist der Outsider-Art, 1975 konstruierte.

Man kann aber auch dadurch in den Himmel kommen, dass man sich in den Lehnstuhl setzt und vom Fliegen träumt. In den weißen Sesseln von Thomas Fitzels „Traumraum“, der im Haus der Kulturen der Welt gelb erstrahlt, erzählen einem die anderen, wie das bei ihnen aussieht. Die Neurobiologie erklärt diesen Traum als Zusammenspiel einzelner Gehirnbereiche mit der Außenwahrnehmung unseres Gleichgewichtsorgans. Hilfreich dafür sind frühe Flugerfahrungen als Kind, wenn einen die Erwachsenen in die Luft werfen und wieder auffangen, oder überhaupt das weite Werfen von Gegenständen.

Wer visionär zu ungeübt ist, selbst abzuheben, der kann das mittels Technik tun und im Spacetrainer seinen Gleichgewichtssinn testen oder eine Brille aufsetzen, die die Welt so auf den Kopf stellt, als befände man sich im „Sturzflug über die Stadt“, wie die rasante Ikone des Futurismus heißt, die Tullio Crali 1939 malte.

Tatsächlich liegt der Charme der Ausstellung darin, wie sich technologisches, biologisches und wissenschaftshistorisches Wissen ganz unkompliziert mit kunst- und kulturhistorischen, ethnologischen und soziologischen Erkenntnissen verbindet, in einem lehrreichen Nebeneinander von Maschinen, Vogelflugfilmen, Kultgegenständen und Kunstwerken. Zu letzteren Exponaten gehört der älteste und wertvollste Schamanenmantel Europas. Ob ihn ein Mann oder eine Frau getragen hat, wer könnte das mit Bestimmtheit sagen? In der Geschichte der Schamanismus jedenfalls flogen beide Geschlechter.

Zum Fliegen braucht es die Atmosphäre. Sie verhindert freilich, dass wir die Erde so sehen, wie sie wirklich ausschaut – erschreckend hässlich, verbeult! „Potsdamer Kartoffel“ nennt das Deutsche Geoforschungszentrum Potsdam ganz zu Recht ihr nach Satellitendaten gebautes Modell. Aus der Traum vom Blauen Planeten.

■ Bis zum 8. Mai im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Mi.–Mo. 11–19 Uhr, Katalog 15 €, weitere Infos unter: hkw.de