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Archiv-Artikel

„Der Meerestyp lässt sich treiben“

Landschaftspsychologie ist in Deutschland bisher ein vernachlässigter Wissenschaftszweig, gewinnt aber an Bedeutung: Damit, wie das Meer uns glücklich macht, hat sich zum Beispiel soeben die Autorin Eva Tenzer befasst. Ein Gespräch

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Frau Tenzer, ist der Satz „Das Meer macht glücklich“ ein Mythos? Kann das Meer nicht genauso gut Depressionen erzeugen?

Eva Tenzer: Natürlich. Das Meer wurde lange Zeit gar nicht als beglückend wahrgenommen, sondern eher als gefährlich und erschreckend. Etliche Erzählungen ranken sich ja um Meeresungeheuer und gekenterte Seeleute. Das Meer ist lange ein Angst-Ort gewesen – besonders für die Küstenbewohner.

Wann änderte sich das?

Vom 17./18. Jahrhundert an, als die Menschen anfingen zu reisen, sprich: als Touristen aus dem Binnenland ans Meer fuhren. Sie erlebten diese Landschaft natürlich anders als die, die dort lebten und ständig mit der Bedrohung durch brechende Deiche oder Springfluten leben mussten. Diese Reisenden – auch Künstler, die sich von dieser Landschaft inspirieren lassen wollten –, haben den Blick der Gesellschaft aufs Meer nachhaltig verändert.

Heißt das, man kann das Meer nur lieben, wenn man ihm nicht täglich nahe ist?

So würde ich es auch wieder nicht sagen. Aber der Perspektivwechsel durch die Touristen war schon nötig. Andererseits lieben natürlich auch viele, die an der Küste wohnen, die See. Viele Menschen ziehen bewusst ans Meer, weil sie diese Landschaft in ihrer Nähe haben wollen. Aber diejenigen, die früher täglich als Fischer aufs Meer fahren mussten, hatten natürlich nicht denselben Spaßfaktor wie die Urlauber. Interessant ist aber auch die Ambivalenz von Angst und Faszination. Nach dem Tsunami etwa sind die Touristen schon ein Jahr später an exakt die Strände gefahren, an denen so viele Menschen gestorben waren. Das zeigt, dass der Zwiespalt, zwar Angst vor der Natur zu haben, aber trotzdem von ihr angezogen zu werden, weiterhin funktioniert.

Ist die Anziehung ein diffuses Gefühl, oder lässt sich das physiologisch begründen?

Es ist ein sehr komplexes Phänomen, wie ich im Laufe meiner Recherche bemerkt habe. Anfangs dachte ich, die Anziehung beruhe vor allem darauf, dass Meer eben der Ort des Urlaubs ist. Dann wurde mir klar, dass der Reiz, den das Meer ausübt, vielschichtiger ist. Er beruht unter anderem auf der Wirkung der Meeresfarben, die sehr entspannend sind. Auch das Meeresrauschen wirkt physiologisch ähnlich wie bestimmte Musikformen. Seine wiederkehrenden Rhythmen haben eine ähnlich entspannende Wirkung wie Meditations- oder Barockmusik.

Wirkt sich diese Entspannung körperlich aus?

Das ist kaum erforscht. Interessant ist aber eine Studie, in deren Rahmen man Zahnarztpatienten Meeresrauschen und Meditationsmusik vorgespielt hat. Sie empfanden deutlich weniger Angst als diejenigen ohne Musik. Auch spürten die mit Meeresmusik bedachten Patienten den Schmerz erst später.

Da kann man Betäubungsmittel sparen.

Man könnte sie möglicherweise geringer dosieren. Auch was Allergiker betrifft, ließe sich in dieser Richtung weiterdenken.

Wirkt das Rauschen des Meeres anders als das des Waldes?

Da gibt es keine Vergleichsstudien. Letztlich geht es immer darum, welche Bilder sich entwickeln. Beim Meeresrauschen hat man schnell die See vor Augen – was auf Menschen, die auf diese Landschaften ansprechen, anders wirkt als das Windrauschen im Gebirge.

Wer fühlt sich am Meer wohl und wer im Gebirge?

Befragungen von Touristen haben ergeben, dass der Bergtyp eher jemand ist, der Bewährung sucht. Der Wanderer ist einer, der festen Boden unter den Füßen braucht, während der Meerestyp emotionaler ist, sich leichter treiben und tragen lässt. Ich habe während meiner Recherchen mit einem Hypnotherapeuten gesprochen, der mit Meeresbildern arbeitet. Er hat herausgefunden, dass Bergtypen, die mit Meeresbildern in Trance versetzt werden, davon profitieren, weil sie dann die Erfahrung machen, sich mal vom Wasser tragen zu lassen. Um die Bergtypen zu „überlisten“, arbeitet er mit Tricks, indem er ihnen zunächst ein Bächlein im Gebirge suggeriert, das irgendwann ins Meer mündet.

Ist der Meerestyp ähnlich überlistbar und aufs Gebirge hin zu polen?

Möglich. Mann muss aber sagen, dass es viele Mischtypen gibt, die sowohl ans Meer als auch in die Berge fahren. Unter den Meerestypen gibt es außerdem Untergruppen: Die „Alpinisten“ sind hier die Nordseetypen: Dort ist das Meer rau, der Wind stark, es geht um Bewegung. Wer ans Mittelmeer fährt, ist meist jünger und mehr auf Äußerlichkeiten bedacht. Er will Spaß haben.

Und wohin fährt der Entspannung Suchende?

Den findet man viel an der Ostsee. Befragungen zufolge sind dies sehr familienorientierte Menschen, denen es genügt, den ganzen Tag am Strand zu sitzen.

An welches Wasser fährt der einsame Wolf, die Wölfin?

An einsame Strände. An kleine Buchten. Grundsätzlich eher in karge Meereslandschaften, wie sie sich in Nordeuropa finden.

Wovon hängt ab, in welcher Landschaft man sich wohl fühlt? Ist es zwangsläufig die Landschaft der Kindheit?

Nein. Viele mögen nicht unbedingt die Landschaft, in der sie groß geworden sind. Es ist aber erstaunlicherweise so, dass Menschen – egal, aus welchem Kulturkreis sie kommen – ähnliche Landschaften als schön empfinden. Fast alle Menschen mögen erhöhte Standpunkte – Steilklippen, Dünen oder eben die Berge. Das ist wohl ein Relikt der Evolution: Von einem erhöhten Standpunkt aus konnte man gut Feinde orten. Außerdem konnte man bergab leichter fliehen. Weiteres Kriterium für eine als schön empfundene Landschaft ist deren Abwechslungsreichtum. Die meisten Menschen lieben locker bepflanzte, variantenreiche Landschaftsformationen. Das hängt wohl damit zusammen, dass sich der Mensch seit Urzeiten in abwechslungsreichen Landschaften leichter ernähren kann: Wo Bäume und Sträucher sind, gibt es vermutlich viel Wild, das man jagen kann.

Der Mensch, der heutzutage die monotone Landschaft liebt: Ist der also total degeneriert?

So weit würde ich nicht gehen. Die erwähnten Vorlieben wurden statistisch ermittelt, gelten aber natürlich nicht flächendeckend. An den Rändern gibt immer sehr spezielle Vorlieben.

Eva Tenzer, Einfach schweben. Wie das Meer den Menschen glücklich macht. Marebuch Verlag, Hamburg 2007, 288 Seiten, 19,90 Euro

EVA TENZER, 38, ist Wissenschaftsjournalistin für Psychologie, Medizin und Naturwissenschaften. 2005 erschien ihr Buch „Älter werden wir jetzt“.