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Archiv-Artikel

Tanz den Krach

ATONAL Alte Legenden und junge Talente werden bei der zweiten Folge des wiederbelebten Berlin Atonal Festivals zu hören sein. Die Industrial-Pioniere Cabaret Voltaire geben dort ihr erstes Konzert seit über 20 Jahren

Keine Grenze zwischen angstbesetzten Frequenzen und hedonistischen Klängen

VON TIM CASPAR BOEHME

Eigentlich ist es das falsche Signal: Wenn man eine vor Jahrzehnten aufgegebene Marke noch einmal aus der Versenkung holt, sagt das im Grunde, dass man der Gegenwart nicht recht traut oder dem „Neuen“ nur begrenzt Chancen einräumt, sich ohne den Mantel des Bewährten zu behaupten. So könnte man es verstehen, dass Dimitri Hegemann, der sich vor allem als Gründer des Tresor-Clubs in Berlin einen Namen gemacht hat, im vergangenen Jahr das Festival Berlin Atonal ins Gedächtnis der Stadt zurückholte. Hegemann organisierte diese Institution in Sachen Krach von 1982 bis 1990. Danach wurde Techno in seinem Leben wichtiger.

Jetzt also wieder Berlin Atonal. In den Achtzigern spielten, den Gepflogenheiten der Zeit gemäß, Industrial-Bands wie Einstürzende Neubauten, Psychic TV oder Test Dept. im Programm. An diese Tradition anknüpfend gab es im vergangenen Jahr einige Krachveteranen zu bestaunen: Unter den Gästen waren etwa der Gitarrenwandmonumentalist Glenn Branca und der nimmermüde Blechtrommler Z’EV, Letzterer spielte sogar schon 1983 bei Berlin Atonal. Ansonsten folgte die Zusammenstellung einer gesunden Mischkalkulation: Alt traf auf Jung, wobei die jüngeren und mittelalten Musiker in der Mehrheit blieben. In diesem Jahr ist es nicht anders.

Unter den handverlesenen Legenden, die für diese zweite Ausgabe erwartet werden, nehmen die Sheffielder Industrial-Pioniere und späteren Techno-Vorreiter Cabaret Voltaire eine Sonderstellung ein. Im Grunde ist die Band der lebende Beweis für die dem aktuellen Festival zugrunde liegende Idee, dass eine Kontinuität zwischen den Krach-Experimenten der Siebziger und Achtziger und der Bass- und Beatgewalt von Techno besteht. Cabaret Voltaire haben in ihrer Musik exakt diese Entwicklung nachvollzogen.

In den siebziger Jahren zählte das Trio Richard H. Kirk, Stephen Mallinder und Chris Watson neben der Band Throbbing Gristle zu den Begründern des Industrial. Diese Musik übernahm von der musikalischen Moderne die Emanzipation von Geräuschen und Lärm und kombinierte sie mit Elementen des Punk, mitunter aber auch des Funk. Besonders Cabaret Voltaire lösten die Grenze zwischen angstbesetzten Frequenzen und hedonistischen Klängen für den Club konsequent auf. Bei ihnen konnte man prima zu Krach tanzen. In der Folge verlegten sie sich zunehmend auf programmierte Klänge und Drumcomputer, ihre Mitte der achtziger Jahre entstandenen Platten können als Proto-Techno gelten.

Bei dem Konzert von Cabaret Voltaire handelt es sich offiziellen Angaben nach um ihren ersten Live-Auftritt seit 1992. Wobei man einschränkend sagen muss, dass sich die letzte Besetzung als Duo 1994 aufgelöst hatte und der Musiker Richard H. Kirk als einziges verbliebenes Mitglied den Namen inzwischen für seine Soloarbeiten verwendet. Eine Wiedervereinigung schließt Kirk ausdrücklich aus: „Cabaret Voltaire besteht nur aus mir selbst, sonst ist niemand daran beteiligt.“ Klassiker von früher wird Kirk keine spielen, stattdessen präsentiert er Cabaret Voltaire als eine Art Installationsprojekt zwischen Videofilm und Klangkunst, mit oder ohne Beat. Man darf gespannt sein.

Für echte Nostalgiker-Bedürfnisse ist ebenfalls gesorgt: Die unter anderem im Heavy Metal beliebte Gepflogenheit, historisch bedeutende Alben auf der Bühne komplett nachzuspielen, scheint mittlerweile auch in der einst stärker an der Zukunft orientierten elektronischen Musik salonfähig geworden zu sein. So darf der österreichische Künstler Konrad Becker alias Monoton sein wegweisendes „Monotonprodukt 07“ von 1982 zum ersten Mal live darbieten. In diesem Fall kann man den restaurativen Ansatz zumindest damit rechtfertigen, dass Monoton, dessen Album als Meilenstein reduktionistischer elektronischer Musik gilt, im Unterschied zu Bands wie Metallica oder Slayer bisher kein Millionenpublikum erreicht hat. Zur Eröffnung greift Berlin Atonal zudem eine Geste auf, die zuvor das Festival CTM (Club Transmediale) erfolgreich etabliert hat: Den Anfang macht ein Vertreter der „ernsten“ Musik, in diesem Fall führt das Frankfurter Ensemble Modern gemeinsam mit dem Londoner Vokalensemble Synergy Vocals die „Music for 18 Musicians“ von Steve Reich auf, eines der berühmtesten Werke der Minimal Music überhaupt. Dazu erklingt der erste Teil aus Reichs „Drumming“.

Es bleibt abzuwarten, ob die eher ungünstigen akustischen Verhältnisse im großzügig dimensionierten Kraftwerk mit seinen Betonwänden und -pfeilern nebst diversen Zwischenebenen eine angemessene Wiedergabe der sich allmählich verschiebenden rhythmischen Akzente ermöglichen. Den gefühlt endlosen Nachhall in den Griff zu bekommen dürfte selbst für das versierte Ensemble Modern keine einfache Aufgabe werden.

Da ist es von Vorteil, dass unter den übrigen Musikern bei Berlin Atonal düstere Techno-Fortentwicklungen mit abgründigen Bässen in gedrosseltem Tempo dominieren. Hegemann hat eine ganze Heerschar von innovativen jüngeren Produzenten versammelt, die sich an der Grenze von Geräusch und Clubmusik abarbeiten. Donato Dozzy, der wichtigste Techno-Produzent Italiens, beehrt das Festival schon zum zweiten Mal in Folge. Diesmal tut er sich mit seinem Landsmann Nuel zusammen, um ihre gemeinsam aufgenommenen, zeitlosen „Aquaplano Sessions“ konzertant darzubieten.

Aus Schweden gelangen die bedrohlichen Klänge eines anonymen Duos mit dem etwas umständlichen Namen Shxcxchcxsh zu uns, desgleichen der grauschattierte Techno des jungen Produzenten Abdulla Rashim, der ebenfalls für leichtes Unbehagen auf der Tanzfläche sorgen könnte. Miles Whittaker, die eine Hälfte der britischen Tonarchiv-Alchimisten Demdike Stare, wird ebenfalls zugegen sein. Als jüngerer Vertreter der abstrakten Tonkunst sei noch der in London lebende Luke Younger alias Helm empfohlen.

■ Berlin Atonal, 20. bis 24. August, Kraftwerk Berlin, www.berlin-atonal.com