: Vor dem Tor zur Hoffnung
AUS DAMASKUS KARIM EL-GAWHARY
Das Tor zur Hoffnung ist drei Meter hoch, weiß-blau gestrichen und meist geschlossen. Nur ab und zu wird es einen Spalt weit aufgeschoben, wie ein „Sesam-öffne-dich“. Dann gerät die Menge in Bewegung. Tausende Irakerinnen und Iraker stehen vor der Einfahrt des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR in Duma, einem Vorort von Damaskus. Szenen der Verzweiflung spielen sich ab, wenn sich die Menge gegen das Tor wirft. Einige versuchen drüberzuklettern. Eingequetschte Frauen schreien. Immer wieder gehen Menschen im Gedränge zu Boden, sie werden gerade noch rechtzeitig hochgezogen, um nicht zertrampelt zu werden. Keiner folgt den Anweisungen der UN-Mitarbeiter in ihren blauen Westen, die per Megafon zur Ruhe mahnen.
Diejenigen, die es durch die Stahltür geschafft haben, müssen anschließend stundenlang in ein Schlange stehen, bevor sie an einen der Tische treten können. Dort registrieren UN-Mitarbeiter die Namen der Menschen, die später einen Termin zur persönlichen Vorsprache erhalten – Voraussetzung, um in Syrien von den UN-Behörden offiziell als Flüchtling registriert zu werden.
Rita und Ziad halten mittags etwas derangiert, aber erleichtert einen solchen „UN-Appointment Slip“ in der Hand. Das Paar hat erst vor vier Monaten in Bagdad geheiratet. Dann wurde Ziads Wagen, in dem er den Buchhalter der Universitätsklinik von Bagdad jeden Morgen zu Arbeit fuhr, von Unbekannten beschossen. „Als ich mich in Bagdad nicht mal mehr vors Haus getraut habe, um Zigaretten zu holen, haben wir schließlich vor einer Woche beschlossen abzuhauen“, berichtet Ziad. Rita sagt: „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich frisch verheiratet mein ganzes Leben hinter mir lassen und vor einem Tor warten muss, um eine neue Heimat zu finden.“ Das Paar steht vor dem Nichts. Nur der Zettel, den sie heute ergattert haben, verspricht ihnen einen Vorstellungstermin bei der UN-Flüchtlingsbehörde Mitte Juli.
Draußen vor dem Tor steht etwas verloren die irakische Ingenieurin Zikra. Vor zwei Wochen ist in Bagdad ihr Mann umgekommen, da hat sie kurzerhand ihre Koffer gepackt. Die Christin, ganz in Schwarz gekleidet, hat sichtlich Mühe, Fassung zu wahren. „Was ist aus uns Irakern geworden“, fragt sie unter Tränen. „Viele, die hier am Tor betteln, um als Flüchtlinge anerkannt zu werden, waren früher Ärzte, Ingenieure oder Professoren.“
Als „dramatisch“ bezeichnet die deutsche UNHCR-Mitarbeiterin Dietrun Günther in Damaskus die Lage. Sie versucht das Elend in Zahlen zu fassen. Rund eine Million Iraker sind inzwischen nach Syrien geflüchtet, Tendenz steigend. Jeden Tag, sagt sie, kämen 4.000 weitere über den Grenzübergang Al-Tanf. An zwei Tagen der Woche könnten sich Iraker hier bei der UNHCR Termine abholen, allein letzte Woche hätten 16.000 einen Termin bekommen.
„Wir versuchen, die Lage so gut wie möglich zu verwalten“, sagt Günther. Zum Glück seien die Syrer großzügig, sie behandelten die Iraker immer noch als Gäste, wenngleich die Aufenthaltsregeln in den letzten Wochen verschärft worden seien. Die Belastung für die 18 Millionen Syrer, die eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben, ist allerdings enorm. Der Arbeitsmarkt für Gelegenheitsarbeiter ist überreizt, erzählt Günther – und das bei einer offiziellen syrischen Arbeitslosenrate von 18 Prozent. Irakische Flüchtlinge dürfen staatliche Krankenhäuser und Schulen in Anspruch nehmen, in manchen Klassen in Damaskus sitzen nun 60 Kinder. „Stellen Sie sich vor“, veranschaulicht ein westlicher Diplomat die Situation, „ein europäisches Land nimmt mehr als fünf Prozent seiner eigenen Bevölkerungszahl als Flüchtlinge auf und integriert sie dann auch noch ins Sozialsystem.“ In Deutschland wären das fast vier Millionen Menschen.
Die meisten geflüchteten Iraker sind in syrischen Städten privat untergekommen. „Aber wenn ihre Zahl weiter steigt, gibt es bei der UNHCR ernsthafte Überlegungen, Flüchtlingslager zu eröffnen“, erklärt Günther. „Viele der Iraker sagen uns, es sei besser in einem Lager in der syrischen Wüste bei 50 Grad im Schatten zu überleben, als in den Irak zurückzukehren.“
An Rückkehr will auch Sabah nicht denken. „Karada“ hat er seinen Friseursalon in Damaskus genannt, nach dem gleichnamigen Viertel in Bagdad, in dem er früher seinen Salon hatte. Vor sieben Monaten wurde das Geschäft von einer Autobombe zerstört, kurz darauf kam der 34-Jährige nach Damaskus. Die meisten seiner heutigen Kunden sind auch Iraker, viele von ihnen kennt er aus Bagdad.
Im Fernseher neben dem Frisiertisch läuft das irakische Programm. „Unsere Vergangenheit ist zerstört, unsere Gegenwart bedroht und unsere Zukunft versperrt“, fasst er seine Lage in einem Satz zusammen. Seit Wochen wartet Sabah auf Nachricht von seinem Bruder, der versucht, sich illegal über die Türkei nach Südeuropa und dann nach Skandinavien durchzuschlagen.
In Sayida Zeinab, einem Außenbezirk von Damaskus, sieht es inzwischen aus wie in Bagdad. Die Bäckereien verkaufen das typische wohlduftende irakische Brot. Ein paar Läden weiter werden Euphrat-Karpfen angeboten – auf offenem Feuer gegrillt nach irakischer „Masguf-Art“, also in der Mitte geteilt und auseinandergefaltet. Die Geschäfte tragen Namen wie „Kerbala-Internet and Communication“. Ein Schild in der Straße, die von den Syrern nur noch „Straße der Iraker“ genannt wird, verkündet gar, dass sich hier ein Büro der im Irak agierenden schiitischen Sadr-Partei befindet.
Auch die unauffälligen Herren des syrischen Geheimdienstes sind präsent. Der Sicherheitsapparat trägt offensichtlich gewissenhaft Vorsorge, dass die irakischen Flüchtlinge ihre internen Bürgerkriegsprobleme nicht ins Nachbarland tragen. Bisher sind keine größeren gewaltsamen Zwischenfälle zwischen Sunniten und Schiiten in Syrien bekannt geworden, wie sie im Irak zur Tagesordnung gehören. Auf der Flucht scheinen die Iraker nicht mehr zwischen den Konfessionen zu unterscheiden, sondern nur froh zu sein, mit heiler Haut davongekommen zu sein.
In einer Zweizimmerwohnung lebt die 14-köpfige Familie Schaker. Möbelstücke gibt es nicht, der wenige Platz wird für die Matratzen gebraucht, die jeden Abend auf dem Boden ausgerollt werden. Die sunnitische Familie hat bis vor acht Monaten in einem konfessionell gemischten Viertel in Bagdad gewohnt. „Als sich die Drohbriefe mehrten, mein Bruder erschossen wurde und meine zwei Cousins durch eine Autobombe umgekommen sind, sind wir hierhergekommen“, berichtet die Mutter Fatima.
Der Vater und der älteste Sohn Ahmad versuchen die Familie mit dem Verkauf von Salzgurken durchzubringen. Nachts werden die Gurken eingelegt, tags von einem kleinen Handkarren verkauft. Für die mehr als 200 Dollar Miete reicht es meist trotzdem nicht. „Wir sind schon fünfmal umgezogen. Die Hausbesitzer haben uns rausgeschmissen, weil wir die Miete nicht zahlen konnten“, sagt Fatima. In Damaskus sind die Immobilienpreise binnen kurzer Zeit um 300 Prozent gestiegen.
Auch daheim in Bagdad waren die Schakers nicht reich, aber es hat trotzdem immer ganz gut gereicht. Einer ihrer Söhne, erzählt Fatima, hatte sogar eine Modeboutique. Als vor ein paar Wochen der neue US-amerikanische Sicherheitsplan für die irakische Hauptstadt vorgestellt wurde, hat die Familie wieder etwas Hoffnung auf Rückkehr geschöpft. Aber auch die ist enttäuscht worden. „Alle, die in den letzten Tage aus Bagdad angekommen sind, erzählen, dass es dort noch schlimmer geworden ist“, sagt Fatima.
Ihr Sohn Ahmad macht sich vor allem um seine hochschwangere Frau Israa Sorgen. In zwei Wochen soll es so weit sein. Still sitzt sie in der Ecke, ihr rosafarbenes Kleid spannt über dem Bauch, auf ihren Knien sitzt ein weiteres Kind. „Ich habe alles Materielle und alle Hoffnung verloren“, bricht es aus Israa heraus. „Was ist das für eine Zukunft, die ich meinem Baby bieten kann?“
Wie alle Iraker hier fühlt sich die Schaker-Familie als vergessene Flüchtlinge. Hatte die Welt einst bei 800.000 Kosovoflüchtlingen aufgeschrien, genießen die nach UN-Schätzung 1,8 Millionen irakischen Binnenflüchtlinge und die über zwei Millionen Iraker, die ins Ausland geflohen sind, bisher viel zu wenig internationale Aufmerksamkeit (siehe Kasten).
Sabah, der zugereiste Friseur, sitz in seinem Salon und schaut irakische Fernsehnachrichten. Von Autobomben und marodierende Milizen ist da die Rede. „Genauso wenig wie die USA zugeben wollen, dass sie einen Bürgerkrieg im Irak geschaffen haben, genauso wollen sie jetzt ignorieren, dass sie für ein riesiges Flüchtlingsproblem verantwortlich sind“, meint er aufgebracht. Er fügt hinzu: „Am liebsten würden sie uns alle vergessen.“
Ironischerweise sind es heute gerade die Länder, die Washington einst vor einem Irakkrieg gewarnt hatten – Syrien, der Iran und Jordanien –, die heute die Folgen dieses Krieges tragen. Wie sehr sie dabei von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen werden, zeigt ein einfacher Blick auf die UNHCR-Statistik über die Aufnahmebereitschaft von Drittländern für irakische Flüchtlinge. Von einer Million Irakern, die in Syrien Zuflucht gefunden hatten, konnten letztes Jahr gerade einmal fünfzig weitervermittelt werden.