Diese vernünftigen Leute

POLITIKWENDE In Baden-Württemberg lastet die Verantwortung nun schwer auf den Grünen, sich als führende Regierungspartei neu zu erfinden

Das dicke, harte Brett ist noch gar nicht durchbohrt. Die Grünen haben nur den Bohrer in der Hand

VON PETER UNFRIED

Ist Winfried Kretschmann ein Patriot? Der künftige Ministerpräsident von Baden-Württemberg verwendet diesen Begriff nicht. Er scheue ihn auch nicht, sagte er mir, er sei ihm bloß zu aufgeladen. Er singe gern die Nationalhymne und bezeichne sich ansonsten als Verfassungspatrioten.

Das definiert die Staatszugehörigkeit als etwas, das nicht auf Blut, sondern auf gemeinsamen politischen Werten beruht. Damit ist Kretschmann bei Habermas, und das ist neben dem Partizipationsangebot an die Bürger, dem Streben nach einer Renaissance des Parlaments und der ökologischen Wirtschaftspolitik eine der Grundlagen, auf der man seinen Katholizismus und habituellen Konservatismus einsortieren kann.

Der Schützenverein, die Gartenarbeit, das Insistieren auf die erste Ehe. Nichts davon gehört hegemonial der CDU – oder jedenfalls längst nicht mehr. Nichts davon steht im Widerspruch zu moderner Politik. Wenn das Parlament ihn Mitte Mai wählt, wird Kretschmann, 62, der erste grüne Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik. Und was ist das Erste, was er verkündet? Ich werde kein grüner Ministerpräsident sein. „Erst kommt das Land, dann kommt irgendwann die Partei“, dieser Satz seines Vorvorvorgängers Erwin Teufel (CDU) ist Kretschmanns Regierungserklärung.

Diese Botschaft geht sowohl an die Kernwählerschaft und die Stuttgart-21-Protestbewegung als auch an die neu gewonnenen Wähler und hinaus aufs Land, wo manche tatsächlich noch glauben, die Grünen würden jetzt hauptamtlich Frösche über die Straße tragen und ansonsten den Daimler zugrunde richten.

75,8 Prozent der Baden-Württemberger haben Kretschmann nicht gewählt: Denen versucht er zu sagen, dass er für sie da sein wird. Er sagt auch, dass er mit ihnen das Bundesland in einem globalen Kontext umgestalten will. Jenseits vom Chauvinismus der Mappus-CDU. Aber – angesichts der Realität von 39 Prozent CDU-Wählern trotz Atomkatastrophe, Bahnhofskrieg und Mappus-Malus – halt auch nicht zu sehr jenseits.

„Erst kommt das Land“ ist auch eine Botschaft, die in der historischen Situation, erstmals eine Regierung anzuführen, die Grünen neu definiert: Die Antiparteienpartei von einst will Politik nicht für ihren Stimmenanteil, sondern für ihr Land machen. Die Grünen sind staatstragend. Interessanterweise ist das trotz sieben Jahren in einer Bundesregierung nicht allen klar. Damals war man nur Junior: Nun dürfen und müssen sie sich als führende Regierungspartei neu erfinden. Das meint vor allem auch die Parteibasis und ihre Stammwähler.

Das wird hart. Der Wahlabend der Grünen im Stuttgarter Künstlerbund hatte daher auch eine melancholische Note. Man sah in vielen Gesichtern etwas sehr Ernstes und Stocknüchternes durchschimmern. Verantwortung hatte sich schwer auf ihre Schultern gelegt. Deshalb gingen sie früh nach Hause, weil ja am Montag die Pflicht rief. Jenes „dicke, harte Brett“, von dem Kretschmann in der Stunde des Sieges gesagt hatte, es sei durchbohrt. Als die Nacht hereingebrochen war, hatte es allen gedämmert, dass sie nur den Bohrer in die Hand gekriegt haben.

Die vernünftigen Grünen von Baden-Württemberg planen selbstverständlich nicht den Ausstieg aus der Industriegesellschaft. Aber den Umbau zu einer weniger energieintensiven und mehr mit Erneuerbaren angetriebenen. Sie wollen „einen Industriezweig stilllegen“, wie Kretschmann – sogar hier unpathetisch – sagt. Nämlich die Atomwirtschaft. Dafür soll die Blockade der Windenergie zügig beendet werden, um diesen Wirtschaftszweig anzukurbeln.

Role Model Kretschmann

Avantgarde in Sachen Erneuerbare waren sie zwar nie, aber nun ist die Energiewirtschaft durch Mappus’ umstrittenen Kauf der EnBW praktisch in Staatshand, also in grün-roter. Das ist ein Problem für den Finanzminister (von der SPD) und eine Chance für den Umweltminister. Alle anderen großen Unternehmen des Landes sind Teil der CDU-Macht oder andersherum. Aber wenn in zwei Jahren beim Daimler noch die Autos wie gehabt vom Band rollen, dann werden alle sagen, dass es ja auch mit den Grünen läuft. Die einen anerkennend – und die anderen enttäuscht.

Es ist offen, ob man Kretschmanns Stil demnächst als bieder und behäbig verhöhnen wird. Oder ob er ein neues Role Model etabliert – des Regierenden, der eben nicht so tut, als ob er alles wisse und könne, und dabei als glaubwürdig und kompetent gilt. Und ob er ein neues Modell eines grünen Spitzenpolitikers prägt, der bei den normalen Menschen nicht besserwisserisch, neunmalklug, schnippisch oder heulsusig-schrill rüberkommt.

Aber wenn eine historische Situation so aufgeladen ist wie in Baden-Württemberg, wo die faktische Staatspartei nach 58 Jahren gefallen ist, weil eine neue Bürgergesellschaft sich konfrontativ formiert hat und die realpolitische Situation zudem extrem kompliziert ist, dann helfen nur der Verzicht auf Pathos und die Betonung der Vernunft. Das kommt Kretschmann zupass, der Pathos nicht mag und nicht kann. Dafür aber Konsens. Manche hassen das Wort, aber es ist das Geheimnis des baden-württembergischen Erfolgs. Weil er dagegen verstieß, ist Stefan Mappus abgewählt worden.

Kretschmann hat der CDU angeboten, sie nicht so schlecht zu behandeln, wie sie die Opposition zu behandeln pflegte. Muss er auch. Die Partei ist immer noch die Macht im Land, die Verwaltung und die Ministerialbürokratie ist in ihrer Hand. Wer da gestalten will, muss ein guter Techniker der Macht sein.

Das größte Potenzial haben die Grünen zunächst nicht in Wirtschaft und Verwaltung, sondern in der Gesellschaft. Es ist das grüne Bürgertum, inklusive Wissens-, Informations- und Kreativelite, das nicht allein die ökologische Transformation anstrebt, sondern damit auch, die alten Hegemonialstrukturen durch neue zu ersetzen. In bester Absicht, aber selbstverständlich auch zum eigenen Wohl. In der Hauptstadt Stuttgart hat sich dieses neue Bürgertum inzwischen durchgesetzt, in der badischen Metropole Freiburg regiert der Grüne Dieter Salomon seit einem Jahrzehnt – konsensorientiert und staatstragend. In den Universitätsstädten Tübingen, Heidelberg und Konstanz dürfte grüne Hegemonie auch nicht weit weg sein.

Und auf dem Land? Robert Habeck, grüner Fraktionsvorsitzender von Schleswig-Holstein, erlebt gerade, dass habitueller Konservatismus und moderne Energiepolitik vereint werden können – wenn die Bauern Geld damit verdienen. Er war der Erste, der konzeptuell darangegangen ist, die Hegemonie der CDU an den verminten Orten zu brechen, ihnen die Begriffe „Heimat“ oder „Familie“ wegzunehmen. Dafür wird Kretschmann sich nicht verbiegen müssen.

Vielleicht ist es für manche verwirrend, dass ein Gründungsmitglied der Grünen mit zwar unüblichem kulturellem Habitus, aber einer handelsüblichen Post-68er-Biografie inklusive Kommunismus-Verirrung nun erster Ministerpräsident wird. Das kann den Blick darauf verstellen, wer die Grünen im Land wirklich sind: Bürgertöchter und Bürgersöhne der nächsten Generation von schwäbischer, badischer, anatolischer oder gar norddeutscher Herkunft, die alle anständig schaffen (und verdienen) und deren Entfremdung mit dem Staat, dem Land und den Verhältnissen nie so weit ging wie jene der Pilgrim-Mütter und -Väter. Weder sind sie traumatisiert von der antiidealistischen Desillusionierung der 70er und 80er noch erstarrt vom hedonistischen Zynismus der 90er. Sie wollen den Staat nicht stürzen, sondern anführen. Die letzten Staatsumstürzler gingen Ende der 90er, als sie Fischer im Dreireiher sahen. Die verstanden nicht, dass er damit nicht seine Herkunft verriet, sondern seine neue Rolle als Staatsmann respektierte. Aber auch die postrevolutionären Grünen waren wütend, sehr wütend – auf Mappus. Dadurch hat sich neben ihre Rationalität eine immense Emotionalität gestellt – und erst das hat einen Befreiungsschlag gebracht, den keiner für möglich hielt. Wenn so etwas möglich ist, dann müsste doch … Utopien, Weltrettung, Rhabarber?

Aber so träumen unsere Grünen nicht. Dafür sind ihre Nächte zu kurz und ihre Kinder zu betreuungsintensiv. Im echten Leben geht es darum, ordentlich und anständig – zwei Schlüsselbegriffe – zu regieren, die Leute mitzunehmen, die Energiewende einzuleiten, ein bisschen Schulpolitik voranzubringen und den Konflikt um Stuttgart 21 zu lösen.

Langweilig? Es wird ein Höllenritt.