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Archiv-Artikel

Darf man an die Grünen glauben?

MACHT Nach den furiosen Wahlsiegen sind die Erwartungen riesig – aber auch die Skepsis

nächste frage

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie in der sonntaz.

www.taz.de/sonntazstreit

JA

Gudrun Pausewang, 83, ist Schriftstellerin und wurde durch „Die Wolke“ bekannt

Bei dieser Frage kommt es darauf an, wie man bisher zu den Grünen stand. Wer ihnen bisher grollte, wird auf Fehler lauern. Mit Anfangsfehlern kann man auch rechnen. Man sollte den Grünen also eine Vorlaufzeit zugestehen. Dann aber los! Immer mehr Wähler, auch ich, erhoffen sich ein baldiges Ende der Atomindustrie. Was sich das gesamte Wahlvolk in Zukunft von seinen Politikern erhofft, ist Ehrlichkeit. Auch wenn sie Schlimmes enthält. Man will sich nicht mehr Sand in die Augen streuen lassen. Ehrlichkeit traue ich den Grünen zu. Und noch mehr! In diesem Rudel gibt’s eine Menge Idealisten. Denen gelingen manchmal fast Wunder. Wer glaubt, der wagt. Ja, ich glaube an sie.

Nils Schmid, 37, ist SPD-Vorsitzender in Baden-Württemberg und Juniorpartner in spe

Glaubensfragen gehören in Gotteshäuser. Aber ich bin überzeugt, dass wir mit den Grünen gemeinsam Baden-Württemberg gut regieren werden. Das Gleichnis vom Koch und Kellner ist ohnehin obsolet – schließlich wollten wir nicht die Landtagskantine übernehmen, sondern die Landesregierung. Und wir haben es geschafft. Ein wichtiger Grund dafür ist die Glaubwürdigkeit, die sich die Grünen in der Atomfrage erworben haben. Hier haben sie Pionierarbeit geleistet und sind belohnt worden. Die Menschen haben den Wechsel herbeigesehnt, jetzt müssen wir ihn in konkreter Politik verwirklichen. Wir werden unsere Schwerpunkte setzen. Dafür muss man nicht beten, darauf kann man sich verlassen.

Sigrid Klausmann-Sittler, 56, ist Regisseurin und Stuttgart-21-Gegnerin

Ich habe die Grünen gewählt, diesmal und schon immer. Würde ich nun nicht an sie glauben, wäre das doch merkwürdig. Jetzt braucht es Geduld. Nicht alles, was die CDU in 58 Jahren einbetoniert hat, lässt sich sofort einreißen. Die Altlasten – allen voran der EnBW-Deal und Stuttgart 21 – sind enorme Bürden. Doch wenn die Politiker spüren, ihre Wähler glauben an sie, kann das Berge versetzen. Allerdings erwarte ich bei S 21 entschlossenes Handeln. Die Bahn hat mit dem Baustopp ein Signal gesetzt. Keiner will hier zwanzig Jahre lang Europas größte Baustelle ertragen – und am Ende einen schlechteren Bahnhof haben. Stuttgart 21 hat die Bevölkerung aus dem politischen Dornröschenschlaf geweckt. Wir werden genau hinschauen, die Geschehnisse konstruktiv begleiten und aufmüpfig bleiben. Der Schwabenstreich geht in die nächste Runde!

Johannes Mentzel, 26, ein Schwabe in Hamburg, kommentierte auf taz.de

Ich denke, dass die neue Regierung auf jeden Fall eine sehr vernünftige Politik machen wird. Es wird aber schwierig, sich mit den Fehlern der Amtsvorgänger herumzuschlagen und dabei eine kompetente Figur zu machen. Hinzu kommt ein engmaschiges Netz aus Beziehungen zwischen CDU-Funktionären, Stammtischen, lokalen Medien und vor allem größeren Konzernen, das fast mafiöse Strukturen aufweist. Dagegen muss man erst mal ankommen.

NEIN

Katrin Göring-Eckardt, 44, Grüne und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Grüne Politik ist solides Handwerk und kein transzendentes Erlösungsversprechen, sie ist ehrliche Analyse und setzt auf kluge Konzepte und kreative Problemlösung. Den Grünen kann man getrost vertrauen, wir werden Versprechen ein- und an Überzeugungen festhalten. Auch eine grüne Regierungspartei kann nicht übers Wasser gehen. Aber sie kann ein Boot flottmachen, beim Bauen und Beladen viele beteiligen und dann mit ihnen, dem Koalitionspartner und den nötigen Kompromissen an Bord in die richtige Richtung segeln. Glauben, das heißt, seine Existenz an etwas Größeres als den Menschen selbst und seine Möglichkeiten zu binden. In diesem Sinn ist „Glauben“ keine taugliche Kategorie für Parteien oder politische Programme. Der große Zuspruch für meine Partei, der mich sehr freut, macht sich an politischem Vertrauen fest, nicht an sakraler Heilserwartung, auch wenn manch politischer Gegner das gern hätte – die Entzauberung durch den Politik-Alltag inklusive. Weil die Grünen glaubwürdig sind, haben sie dieses Vertrauen verdient.

Oswald Metzger, 56, ist CDU-Mitglied und Publizist, trat 2007 nach 20 Jahren bei den Grünen aus

Ich kenne das politische Geschäft zu lange, um parteigläubig zu sein. Persönlich schätze ich den designierten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, glaube aber mitnichten an eine nachhaltige Politikkonzeption der Grünen. Genau dort, wo sie in Regierungsverantwortung sind, explodieren die Staatsschulden: in NRW und in Bremen. Was schert mich mein Geschwätz von der Generationengerechtigkeit?! Wir wollen nicht zu Lasten der Zukunft unserer Kinder und Enkel leben: Reine Phrasendrescherei! Freigiebigkeit bei der Forderung nach neuen Sozialleistungen, aber Angst vor notwendigen Sanierungsschnitten – etwa bei den Beamtenpensionen. In Baden-Württemberg wählten am Sonntag 32 Prozent der Beamten die Grünen. Wer legt sich schon mit denen an, die einem zur Macht verhelfen? Es ist kein Trost, dass diese Form von Ehrlichkeit bei keiner Partei wirklich gefragt ist.

Markus Klein, 41, ist Professor für Politische Soziologie an der Uni Hannover

Joschka Fischer hatte im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 über den damaligen Höhenflug von Union und FDP in den Umfragen gespottet, das käme ihm vor „wie ein wunderbar anzuschauendes Soufflé im Ofen“. Man werde schon sehen, was davon übrig bleibe, wenn „der Souverän da hineinpiekst“. Nun fiel das schwarz-gelbe Soufflé des Jahres 2005 bekanntermaßen schon vor der Wahl in sich zusammen. Das grüne Soufflé des Jahres 2011 hatte zur Landtagswahl in Baden-Württemberg gerade seine prallste Form erreicht. Und so wird diesmal auch nicht der Souverän, sondern der politische Alltag ins Soufflé hineinpieksen. Können die Grünen Stuttgart 21 noch stoppen? Welchen Rückhalt hat der betulich-konservative Winfried Kretschmann wirklich in seiner Partei? Wie lange wird das Thema Ausstieg aus der Atomenergie die politische Agenda bestimmen? Werden die Bürgerinnen und Bürger, die durch dieses Thema zur Wahl der Grünen motiviert wurden, Grün-Rot auch dann noch stützen, wenn der politische Alltag wieder einkehrt? Der Unwägbarkeiten sind zu viele, um wirklich vorbehaltlos an den Erfolg der Grünen glauben zu können.