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Archiv-Artikel

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Kritisieren heißt, einen Unterschied zu machen. Und davon zu sprechen, was man politisch und kulturell für wünschenswert hält. Aus Anlass von „Pocket Symphony“, dem neuen Album des Pariser Duos Air: einige Gedanken zum Stand der Popkritik

Auf dem Weg ihres Transfers aus der Kunst in die Lebenswelt muss der Kritiker die der Musik impliziten Ideen aufdecken

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Als das Projekt Air neu war, warf man ihm oft vor, es sei nur an Distinktionsgewinnen interessiert, mithin an jenem leeren, nur dem sozialen Standing oder Aufstieg dienenden Verhalten, das der große Soziologe Pierre Bourdieu auf den Begriff gebracht hat. Diese säuselnd-bittersüße After-Party-Stimmung werde nicht um ihrer selbst, sondern um einer leeren, karrieristischen Unterscheidung willen in die Welt gesetzt, so meinten manche Kritiker. Denn man war damals, Ende der Neunziger, viel damit beschäftigt, unterschwellige soziale und politische Strategien in vermeintlich rein künstlerischen Absichten zu entdecken. Der Vorwurf des Distinktionsgewinns gehörte zum Besteck einer solchen Kritik, die argumentativ an das Eingemachte, das Implizite heranwollte.

Später hat man oft genug erlebt, wie der Vorwurf des Distinktionsgewinns als Totschlagargument zum Einsatz kam, das jedes, gerade auch das berechtigte, kritische und darin notwendige Setzen von Unterschieden unter Generalverdacht stellt. Damals aber, als der Begriff noch scharf war, war seine Anwendung auf Air zwar falsch. Aber interessant falsch. Air hatten tatsächlich mit Distinktion zu tun, aber anders.

Air trugen dem frivolen und korrupten Konsum leerer Luxusgüter den melancholischen Sinn hinterher. Sie schwelgten in genau den Zuständen, aus denen man sich nur durch dramatische Distinktionsgesten heraushelfen zu können glaubte – so wie gegen Drogen nur Drogen helfen. Alle, noch so distinkte Zeichen bedeuten plötzlich nur noch dasselbe. Aber mit der dramatischen Unterscheidung von der Unterscheidung kommt man auch nicht weiter. Man endet am abwegigsten Ort der Welt und beobachtet sich dabei, wie man Ornamente kotzt. Gefühlvoll spürten Air den menschlichen Wüsten nach, wo emotionales Sterben auf hohem Niveau stattfindet. Sie griffen zu den abgeschmacktesten und doch in der Zitierökonomie der Popmusik gerade deswegen rar gewordenen Registern von Entgrenzungsmusik (Michel Legrand, „Atom Heart Mother“) und kreierten einen ziemlich neuen Reiz: Es gelang ihnen, den zwischen sehr billig und sehr teuer klaffenden Abgrund mit wundervoll affiger Seele zu füllen.

Das ganz und gar ökonomisierte Subjekt war auf die Formel seiner leckeren Verödung gebracht. Air weckte dieses Subjekt aus ewig verschwiemelter Verblendung. Mit Rücksicht auf seine verkaterte Vulnerabilität setzten sie dafür nur die zartesten Klingeltöne ein. Dies war alles in allem die Umdrehung des Distinktionsgewinns, der ja per Entleerung soziale Tatsachen schafft, hier wurde aber die Geste im Nachhinein mit ihren niederschmetternden sozialen Ursachen gefüllt. Denen allerdings ein Verständnis entgegengebracht wurde, das durchaus an die Sympathie erinnert, die die Air-Freundin Sofia Coppola für ihr Geschöpf Marie Antoinette so sichtbar hegte.

In letzter Zeit wird nun auch die (Pop-)Kritik selbst dem Verdacht, bloße Distinktionsgeste zu sein, ausgesetzt, die sich im „Kampf um Positionen und Distinktionen“ erschöpfe, wie Thomas Groß es am 22. 2. in der Zeit formuliert hat. Für Groß ist das Ende des „Bescheidwissens“ in der Pop-Musik-Kritik gekommen, das er merkwürdigerweise auf das Verschwinden eines Infovorsprungs zurückführt, den die von der Schallplattenindustrie bemusterten Redaktionen gegenüber ihrem Publikum gehabt hätten und der nun in der Internet-Epoche gefallen sei. Nicht nur jeder, der mal in einer anständigen Musikredaktion gearbeitet hat, weiß, dass die guten Platten eben nicht bemustert werden, und jeder, der heutiges Musikgeschehen verfolgt, weiß, dass die über die Weiten des Netzes verteilten Infos zwar technisch jedem zugänglich sind, kulturell aber viel weiter von jeder synthetisierenden, anschlussfähigen und so Wissen bildenden Beobachtung entfernt, erst recht vom Mainstream. Nicht zuletzt, weil sich die konsensualistische Pop-Kritik tatsächlich nicht mehr jenseits der Bemusterungsnormalität umsieht.

Ohne den Infovorsprung ist Kritik ist für Groß nichts anderes als jede andere leere Geschmacksbehauptung und daher bloße Distinktion. Sie müsse ihren „Avantgarde-Anspruch“ aufgeben und sich beschränken, „auf Augenhöhe Geschmacksbildung“ zu betreiben. Also den leeren Distinktionsgeschmack etwas gerechter verteilen? Der traurige Status quo des ohnehin weitgehenden Kritikverzichts soll zum normativen Credo erklärt werden. Mit Boris Groys plädiert er für die Abrüstung des Kritikers: Dieser sei künftig nur noch ein „Zeigender. Er zeigt auf die Dinge, die er interessant findet, und damit immer auch auf sich selbst“. Aber nicht einmal zeigen kann man ohne ein an der Idee des Objektiven orientiertes Argumentationsinteresse. Sonst verbleibt man in jenem Elend der Subjektivität, von dem uns Air erzählen.

Ähnlich wie Groß argumentierte neulich auch Michael Rutschky in der ersten Folge der taz-Serie über Kritik (am 11. 7. 06). Seit Bourdieu wisse man, dass „alle (…) Gesellschaftskritik (…) an dem Spiel um Distinktionsgewinne teilhat“ und daher „so gut wie alles, was Adorno über die Kulturindustrie, über den Kunst- und Musikgeschmack der Massen geschrieben hatte, (…) damit als wahrhaft kritische Theorie verloren zu geben“ war. Rutschky liest Bourdieus Erweiterung der Kritik um eine reflexive Dimension als Argument gegen Kritik an sich. Die selbstreflexive Dimension erweitert zwar die Obligation des Kritikers, Kriterien transparent zu machen, nämlich auf die materiellen Grundlagen der eigenen Position. Das ergibt – im Idealfall – aber nur komplexer begründete Urteile, ist aber nicht mit der resignierten Zurückhaltung heute üblicher Urteilsvermeidung zu verwechseln. Die das weitaus größere Problem ist als selbstherrliche Besserwisserkritiker.

Die Qualität der Sätze eines Kritikers ist nicht abhängig von seinen sozialen Motiven. Er fällt in der Tat dieselben Geschmacksurteile, die alle anderen auch fällen, mit dem Unterschied, dass er sie begründet. Der transparente Einsatz seiner Kriterien entscheidet erstens darüber, was für eine Sorte Kunstwerk er generell für wünschenswert hält und zweitens ob das fragliche konkrete Kunstwerk diesen Kriterien entspricht. Abschließend kann man mit ihm über beide Behauptungen und die grundsätzliche Angemessenheit der Kriterien diskutieren – diese Diskussion führt man auch generell im Hinblick darauf, was man über einzelne Kunstwerke hinaus für politisch-kulturell wünschenswert hält. Mit dem nur Zeigenden geht das nicht. Der behauptet ja nichts, außer seiner unhintergehbaren Subjektivität, wie sie von Pop-Musik und Pop-Kritik leider wieder gehätschelt wird. Sein Diskurs hat nichts in der Hand gegen die Dominanz von reaktionären Ideen im Impliziten heutiger Pop-Musik. Er darf ja nicht argumentieren, geschweige denn werten, er soll ja nur zeigen.

Die Popmusikkritik hat es ohnehin – anders als andere Kritikgenres – weniger mit Objekten als mit Posen zu tun, mit lebenden Bildern. Eine Band wie Air war deswegen immer so wichtig, weil sie das quasi-magische Geschäft der Konstruktion solcher Posen, die trotz aller Transparenz (oder gerade wegen ihr) Wirkung entfachten, so virtuos beherrschte. Nicht wie Groß schreibt, „verkommt (…) unter Revival-Bedingungen (…) jede Rebellion zur Pose“, sondern umgekehrt ist die Pose primär, das Ausgangsmaterial von Pop-Musik – Rezipienten, professionelle und nichtprofessionelle machten daraus mitunter Rebellion.

Doch auf dem Wege ihres merkwürdigen Transfers in die Lebenswelt muss der begleitende Kritiker ihre impliziten Ideen von der Welt aufdecken. Dabei kommt zwangsläufig ein Wissen heraus, das ganz anders ist als das der Pose und der Beats. In seiner Heterogenität gegenüber seinem Gegenstand wird diesem Wissen seit Menschengedenken – zu Unrecht – Unangemessenheit vorgeworfen, sei es als Besserwissen, Bescheidwissen oder in Form des blöden Zappa-Bonmots von der Architektur, über die sich nicht tanzen lässt. Unähnlichkeit mit ihrem Gegenstand ist aber gerade die Stärke der Kritik. Dabei sind der kritische Pop-Musik-Diskurs und die ganz andere Welt lebender Posen natürlich in beide Richtungen aufeinander angewiesen. Dass Kritik gerade im Insistieren auf diskutierbare Urteile – und nicht in der abgerüsteten Zurückgezogenheit auf selbstbezogenes Zeigen – den Posen erst die Brisanz ermöglicht, konsequenziell in der Welt etwas zu bedeuten, zeigt ja gerade eine Gruppe wie Air. Die implizite Ebene überlebt als künstlerische Möglichkeit nur, wenn es eine Kritik gibt, die sie herausarbeitet – andernfalls nur als dumpfe Ideologie.

Die kosmische Verklärung eines konsumistisch ermatteten, vollständig ratlosen Dämmerns bei Air kann ja nur deswegen so ausgebadet und skandalös schön werden, weil es um seine ideologischen Gefahren weiß, weil es zumindest ahnt, dass in jedem Gramm Synthesizer-Sacharin unerträgliche politische Ideen an sich selbst dekorativ zugrunde gehen. Gäbe es einen Diskurs über – zu diskutierende und zu beurteilende Ideen – in den Klängen und ihren Posen nicht, wären Air nicht entstanden.

Und genau darum ist „Pocket Symphony“ (Virgin/EMI), ihr neuestes Opus, etwas unbefriedigend. Hier scheint sich eine Tendenz zur Normalisierung und Naturalisierung ihrer skandalösen, exhibitionistisch bis selbstreflexiven Distinktionstheorie zu vollenden, die schon auf den letzten Werken angedeutet war. Das alles soll wieder ganz normaler Pop sein, singbar, melodiös und an seinen Abgründen von H&M aufgefangen. Kein Erhabenheitsschwindel mehr im Angesicht des absoluten Nichts kapitalistischer Kultur.