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Archiv-Artikel

Die Zukunft wird desaströs gewesen sein

UNHEIL Fiktionen als Zeitdiagnostiker: Eva Horns Kulturgeschichte der modernen Katastrophe

Horns Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, moderne Untergangs-Fiktion ernst zu nehmen

VON EVA BERGER

Es gibt Erkenntnisfelder unserer Wirklichkeit, die einer faktenbasierten wissenschaftlichen Analyse nicht zugänglich sind, sondern nur im Modus des Fiktiven entzifferbar werden. Dies ist das Terrain, auf dem die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn zu Hause ist. Sie betreibt historische Gegenwartsdiagnose im Medium der Unterhaltungsfiktion, und die Begeisterung, mit der sie sich in ihrem neuen Buch „Zukunft als Katastrophe“ durch die Literaturwelten seit der Romantik genauso hindurchanalysiert wie durch das Arthouse- und Blockbusterkino unserer Gegenwart, ist augenöffnend.

Kein Thema ist unserem Wissen so vollkommen entzogen wie das der Zukunft. Wir können nicht wissen, wie sie sein wird. Zukunft als Katastrophe zu denken ist daher – sei es im Mainstreamkino, sei es im naturwissenschaftlichen Klimawandelszenario – immer fiktiv und ganz von unserer Imagination und dem kontingenten Wissen unserer Gegenwart abhängig.

Was Unterhaltungsfiktion aber im Unterschied zur Wissenschaft zu leisten vermag, ist das Auserzählen möglicher kommender Katastrophenwelten aus der Perspektive eines Futur II unserer Gegenwart. Sie kann in die Welt nach der Katastrophe blicken und ihr offenbarendes Potenzial ausloten, sie kann die anthropologischen Dimensionen zukünftiger Desaster durchspielen und danach fragen, was vom Menschen übrig bleibt, wenn er die Ressourcen seines Lebens aufgebraucht haben wird. Und sie kann die Aporien wahrnehmbar machen, in die sich eine Gegenwart verstricken muss, die auf Prävention einer Zukunft zielt, die sich nicht kennt.

Es sind diese Erkenntnisdimensionen des Fiktiven im Blick auf die Zukunft, die Horn in sechs facettenreichen Kapiteln auslotet. Zum einen vermisst sie in genealogischer Perspektive die historischen Konjunkturen katastrophischen Denkens und Imaginierens, die von der Romantik über den Kalten Krieg und die Super-GAU-Realitäten Tschernobyls bis zu den heutigen Szenarien einer Katastrophe ohne Ereignis führen, deren Inbegriff der Klimawandel ist.

Ins Unterhaltungsfiktive übersetzt, spiegelt diese Analyse die ätzende Modernekritik des Romantikers Lord Byron in den Letzte-Menschen-Szenarien Cormac McCarthys; sie schenkt dem notorischen Klimaskeptiker Michael Crichton genauso Beachtung wie seinem alarmistischen Gegenpart Al Gore – und macht eine visuelle Landkarte katastrophischer Möglichkeiten sichtbar, die von den Atombomben-Vernichtungsszenarien Dr. Seltsams bis zum Blockbuster-Gedröne Roland Emmerichs reicht.

Zum anderen wendet sie sich dem spezifisch gegenwärtigen Zeitgefühl der Katastrophe ohne Ereignis zu. Und damit den Aporien und Unwägbarkeiten, in die sich ein auf Prävention ausgerichtetes Handeln verstricken muss, das in die Gegenwart zu intervenieren versucht, um eine Zukunft zu verhindern, die es nicht kennt. Dies ist der tragische Kern unseres aktuellen Seins und (Nicht-)Handelnkönnens. Jedes Eingreifen in die Jetztzeit kann ein Feuerwerk katastrophischer Zukünfte zünden, während schlichtes Fortschreiten auf den Pfaden des Gegenwärtigen, wie schon Walter Benjamin wusste, erst recht die eigentliche Katastrophe sein könnte.

Exemplarisch durchleuchtet Horn diese Aporien in einem fulminanten Schlusskapitel, in dem sie den antiken Tragiker Ödipus auf Steven Spielbergs „Minority Report“ und Terry Gilliams „Twelve Monkeys“ treffen lässt. Beide reflektieren die Frage von Blindheit und Sehen im Zukunftswissen und die Möglichkeiten präventiven und präemptiven Eingreifens in die Gegenwart. Während sich jedoch Spielberg seinen Handlungsoptimismus bewahrt, erfährt Gilliams Held am eigenen Leib, dass wir auch sehenden Auges in der Katastrophe enden können.

Fans gepflegter Desaster-Unterhaltung sei die Lektüre von „Zukunft als Katastrophe“ ans Herz gelegt. Es fällt danach allerdings schwerer, sie bloß als eskapistische Entspannung zu genießen. Horns Buch ist auch ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, moderne Untergangs-Fiktion ernst zu nehmen. Denn nur, wenn wir die zukünftige Katastrophe imaginieren und an ihre Realität zu glauben vermögen, kann sie vielleicht zum Instrument ihrer Verhinderung in unserer Jetztzeit werden.

Eva Horn: „Zukunft als Katastrophe“. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2014, 480 Seiten, 21,99 Euro