Sie hatten einen Traum

FERGUSON Zwei Jahre nach Trayvon Martins Tod und trotz des schwarzen Präsidenten bekommen die USA das Rassismusproblem nicht in den Griff

VON RIEKE HAVERTZ

50 Jahre nachdem Lyndon B. Johnson die Gleichberechtigung mit seiner Unterschrift unter dem Bürgerrechtsgesetz besiegelte, muss sich Amerika die Frage stellen: Wie groß ist die Lücke zwischen den Verheißungen eines Landes, das sich selbst als „melting pot“, als Schmelztiegel aller Nationalitäten sieht, und einem Alltag, in dem Rassismus allgegenwärtig ist?

Der „Civil Rights Act“ schaffte Wahltests ebenso ab wie Rassentrennung in Restaurants oder Bussen. Gleicher als gleich sind aber bis heute hauptsächlich Weiße. In New York kann die Polizei willkürlich Passanten anhalten und durchsuchen, in mehr als der Hälfte der Fälle trifft „stop-and-frisk“ Afroamerikaner. 2010 saßen pro 100.000 Einwohner mehr als 3.000 Schwarze in Gefängnissen ein – aber nur gut 460 Weiße. Schwarze und Weiße konsumieren ähnlich viele Drogen, aber die Chancen, dass Afroamerikaner wegen Marihuana verhaftet werden, sind vier Mal höher. In Ferguson leben überwiegend Afroamerikaner, doch die Polizei ist weiß.

Dann stirbt ein Teenager und die Nationalgarde rückt ein, um den gewalttätigen Protesten zu begegnen.

Demonstrationen gab es auch nach dem Tod von Trayvon Martin. Der 17-jährige Afroamerikaner wurde vor zwei Jahren in Florida von einem Mitglied einer privaten Bürgerwehr erschossen. Der Junge war unbewaffnet. Täter George Zimmerman wurde freigesprochen. Das „Stand your ground“-Gesetz machte aus ihm einen Schützen in Notwehr.

Amerika stellt sich seinem Rassenproblem nicht. Lieber wird der Mythos vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ gepflegt, um zu überblenden, was immanent ist: ein Alltag voller Segregation und Ignoranz. Täglich sterben schwarze Jugendliche in unterprivilegierten Vierteln der Großstädte. In Chicago gibt es kein Viertel, in dem Weiße, Afroamerikaner und Hispanics gemeinsam leben. Die Mordrate ist hoch, aber es sterben nur „böse, schwarze Jungs“, die sich in Kämpfen zwischen diversen Gangs erschießen.

Fährt man mit der U-Bahn in den Süden der Stadt, wird die Trennung sichtbar: Im Norden lebt die weiße Elite, die an ihren gentrifizierten Appartementkomplexen mit Sicherheitscode aussteigt, bis irgendwann, weit entfernt von jedem amerikanischen Traum, nur Afroamerikaner übrig bleiben. 50 Jahre nach dem Civil Rights Act mag jeder in Bus und Bahn sitzen, wo es ihm beliebt, aber bitte rechtzeitig aussteigen – sonst wird es gefährlich. Afroamerikaner werden immer noch zu „Angstobjekten“ degradiert, wie es Präsident Obama in einer Ansprache in dieser Woche formulierte.

Die Frage nach der Ursache stellt sich die Mehrheit nicht: Gettobildung, miese Bildungschancen, schlechtere Bezahlung, höhere Arbeitslosenquote. Mit Rassismus, so die weiße Sprachregelung, hat das alles nichts zu tun, schließlich ist hier jeder für sein Glück selbst verantwortlich.

Trayvon Martin, Michael Brown, tragische Einzelfälle sollte man meinen – dabei wurden allein im August vier weitere Afroamerikaner von der Polizei unter fragwürdigen Umständen erschossen. Die Lücke zwischen der Verheißung amerikanischer Ideale und der Realität ist riesig. Sie spaltet Städte, sie zeigt sich in Polizeistatistiken, in Gefängnissen, in U-Bahnen.

Die Eskalation in Ferguson wird nicht dazu beitragen, sie zu schließen. Die Gewalt wird nur dafür sorgen, die Vorurteile in Teilen der amerikanischen Gesellschaft zu festigen. Doch was kann helfen, die Lücke zu schließen? Ein schwarzer Präsident? Obama steht vor dem Ende seiner Zeit im Weißen Haus. Er hat es geschafft, wurde gewählt, gar wiedergewählt ins höchste Amt des Landes. Aber Barack Obama ist nur die Ausnahme von der Regel. Ein weiterer Traum in einem Land, das es perfektioniert hat, Illusionen zu verkaufen. In der Realität unserer Zeit sind die Chancen für einen jungen Afroamerikaner, auf irgendeiner amerikanischen Straße zu sterben, immer noch bedeutend höher, als dem Oval Office auch nur nahezukommen.