Weiterrätseln über Atommüll

ATOM Im Forschungsreaktor Jülich können zerbrochene Brennelement-Kugeln die Kühlung blockiert haben. Atomkritiker fordern eine Neubewertung der Technologie

„Bis 1982 wurde alles handschriftlich dokumentiert“

Forschungszentrum Jülich

AUS BOCHUM ANDREAS WYPUTTA

Der Verbleib von 2.285 Brennelementen aus dem Forschungsreaktor im rheinischen Jülich blieb auch am Montag ungeklärt. Sprecher der rot-grünen NRW-Landesregierung beklagten gegenüber der taz, das Forschungszentrum Jülich könne nicht vollständig dokumentieren, was genau mit dem radioaktiven Material geschehen sei. „Bis 1982 wurde dort alles handschriftlich erledigt.“ Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD) forderte eine genaue Auflistung, „welche Mengen nuklearen Materials wann und wo gelagert wurden“.

Das Forschungszentrum versicherte dagegen, die Brennelemente hätten das Betriebsgelände nicht verlassen. Es handle es sich um sogenannten Kugelbruch. Der Jülicher Meiler arbeitet mit Hochtemperaturen und mit Brennelementen in Kugel- statt in Stabform. Dieser Bruch sei „zur sicheren Lagerung einzementiert“ worden, hieß es in einer schriftlichen Mitteilung. Der Verbleib der rund 290 000 bis zur Stillung des Forschungsreaktors 1988 eingesetzten radioaktiven Kugeln sei „lückenlos dokumentiert“ und werde regelmäßig überprüft, versicherte der Vorstandsvorsitzende des Forschungszentrums, Achim Bachem gestern. Für Rückfragen war bis Redaktionsschluss allerdings niemand zu erreichen.

In dem Forschungsreaktor waren von 1967 bis 1988 290.705 Brennelementkugeln zum Einsatz gekommen. In Jülich lagern davon heute 288.161 Kugeln in Castorbehältern. Im Reaktor selbst befinden sich heute 197 zum Teil beschädigte Elemente. 62 weitere werden in heißen Zellen des Forschungszentrums untersucht. Zu befürchten ist also, dass weitaus mehr Brennelementkugeln in dem Reaktor selbst zu radioaktivem Staub zermahlen wurden als bisher angenommen. „Damit steht die gesamte Funktionsweise der Hochtemperatur-Technologie in Frage“, warnt der Atomkritiker Rainer Moormann, der selbst in Jülich arbeitet.

Die Zerbrechlichkeit der Brennelement-Kugeln gilt als die Schwachstelle dieser Technik. Moormann hatte schon vor zwei Jahren eine Studie vorgestellt, nach der Jülich nur knapp einer Katastrophe entgangen ist: Moormann, damals Mitarbeiter im Institut für Sicherheitsforschung und Reaktortechnik des Forschungszentrums, hält Explosionen mit Beschädigung der Reaktorhülle ebenso für möglich wie unkontrollierte Kettenreaktionen. „Auch andere Wissenschaftler sprechen von einer Tschernobyl-ähnlichen Situation“, sagt er.

Die zerbrochenen Brennelement-Kugeln können das Kühlsystem des Reaktors verstopfen: In der einzigen jemals gebauten deutschen Hochtemperatur-Anlage, dem Thorium-Hochtemperaturreaktor im westfälischen Hamm, ist 1986 offenbar genau das passiert: Bei dem Versuch, die Rohrleitungen mit Überdruck freizublasen, gelangte Radioaktivität in die Umwelt, der Meiler musste stillgelegt werden.

Verstrahlt ist auch das Gelände des Jülicher Zentrums. 1978 strömten rund 30 Kubikmeter Wasser aus einer defekten Rohrleitung in den Reaktor. Beim Abpumpen gelangte die kontaminierte Flüssigkeit in den Boden. Die Betreiber verschwiegen diesen Unfall über 20 Jahre – bis in einem Regenwasserkanal Strontium gefunden wurde.

Um das Erdreich unter dem Reaktor zu reinigen, soll der über 2.100 Tonnen schwere Druckbehälter umgekippt und auf einem Luftkissen 200 Meter bewegt werden. Geplant ist die weltweit einmalige Aktion frühestens 2012. Atomkritiker fordern eine Neubewertung der Hochtemperatur-Technologie: „Das Forschungszentrum muss offenlegen, wie viele Kugeln mit welchen Folgen im Reaktor zerbrochen sind“, sagt Moormann.