: „Wichtig ist, dass man streiten kann“
Christine Labonté-Roset
Seit 13 Jahren ist sie Rektorin der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit in Hellersdorf. Seither hat sich die Zahl der StudentInnen vervierfacht und die Zahl der berufenen Dozentinnen verdoppelt. Zudem wurde die internationale Ausrichtung der Fachhochschule verstärkt. StudentInnen aus 40 Ländern haben bisher dort studiert. Die 1942 geborene Sozialwissenschaftlerin war früher in linken Studentengruppen aktiv. Bis heute bezeichnet sich Christine Labonté-Roset als Feministin – und fordert gleichzeitig: „Wir brauchen mehr Männer in der Sozialarbeit“
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB
taz: Frau Labonté-Roset, Sie sind eine erfolgreiche Hochschulpolitikerin. Womit sind Sie zuletzt gescheitert?
Christine Labonté-Roset: Womit ich gescheitert bin? Mit einer privaten Beziehung, die mir viel bedeutet hat. Sicher hat das auch mit meiner Arbeitsbelastung und meinen vielen internationalen Aktivitäten zu tun.
Das klingt nach Krise. Welches sozialarbeiterische Rezept verordnen Sie sich denn bei Liebeskummer?
Ich bezweifle, dass es ein sozialarbeiterisches Rezept für Liebeskummer gibt. Wie bei allen Problemen gilt: Das Wichtigste sind Freunde …
… die man zuvor häufig vernachlässigt hat.
Sicher, keine Frage. Aber trotzdem hab ich sie Gott sei Dank noch. Und was ich auch immer sage: In schwierigen Situationen soll man sich fachlichen Beistand, etwa eine Therapie, holen.
Also gibt es nicht auf alles eine sozialarbeiterische Antwort?
Auf Verlust und Trauer gibt es keine. Auf Leid und Tod auch nicht. Obwohl sich unsere Leute aus dem Pflegebereich etwa in der Hospizarbeit jetzt viele andere Formen des Umgangs mit Sterben erarbeiten müssen. Sie müssen jeden Tag neue Antworten auf den Tod finden.
Gibt es in Wirklichkeit nicht immer weniger Antworten auf immer mehr Fragen?
Natürlich ist unsere Gegenwart sehr komplex. Ich sage nur „Informationsgesellschaft“. Außerdem sind wir nicht mehr so auf Rollen und Muster festgelegt, wie das bis ins letzte Jahrhundert hinein der Fall war. Auch nicht auf bestimmte Werte, die man mit anderen teilt. Die Individualisierung macht jeden für sich selbst verantwortlich. Das macht es so schwierig. Aber ich bin mir nicht sicher, ob unsere Vorfahren ihre Fragen und Probleme nicht ähnlich unbeantwortbar fanden.
Mal grober gefragt: Ist die klassische Sozialarbeit am Ende? Die Gefängnisse werden immer voller, Lehrer müssen den Kindern primäres Sozialverhalten beibringen, Jugendliche durchbrechen immer öfter Aggressionstabus, mehr Hartz-IV-Abhängige, Familien in dritter Generation auf Sozialhilfe sind immer weniger erreichbar …
Was Sie da so vereinfacht aufzählen, kann ich nicht akzeptieren. Es ist eine einseitige bildungsbürgerliche Sicht, die in den Medien stark verbreitet ist.
Müssen Sie sie als solche nicht auch ernst nehmen?
Natürlich. Aber man darf nicht aus der Ferne urteilen und sagen, diese Gruppen seien immer weniger erreichbar. Das stimmt so nicht. Gerade die moderne Sozialarbeit arbeitet mit den Klienten – und nicht über sie. Sie fragt nicht nach den Defiziten wie früher, sondern nach den Stärken der Betroffenen, die unterstützt werden können. Das ist eine wesentliche Änderung der Sozialarbeit in den vergangenen Jahrzehnten.
Wie erklären Sie sich, dass die Defizite dennoch zunehmen?
Das hat damit zu tun, dass sich unsere Gesellschaft sehr verändert hat. Von einer Arbeitsgesellschaft ist sie zu einer Dienstleistungsgesellschaft geworden mit hochtechnisierten Produktionsbereichen. Deshalb werden sehr viel weniger Arbeitskräfte gebraucht, vor allem weniger ohne berufliche Ausbildung. Neokonservative Autoren sprechen mittlerweile von einer überflüssigen Unterschicht. In den USA heißt diese sogar: the dangerous urban underclass. Da kommt also noch „gefährlich“ dazu. Und wenn man es genau nimmt, auch Rassismus.
Eine Ursache für die vielen sozialen Probleme ist aus Ihrer Sicht demnach der Arbeitsplatzmangel.
Natürlich. Nur 15 Prozent aller Langzeitarbeitslosen, die zwei Jahre aus dem Arbeitsleben raus sind, finden noch einen Job. Das muss man sich mal vorstellen.
Jobs für Arbeitslose kann die Sozialarbeit jedoch kaum schaffen.
Falsch. Es gibt etliche Projekte, die Arbeit schaffen im Rahmen der Programme von „Sozialer Ökonomie“. Das sind Zusammenschlüsse zum Teil auch von Arbeitslosen, die selbst kleine Firmen gründen. In Deutschland ist das nicht sehr stark entwickelt, aber in der Schweiz und in den USA findet man da sehr viele Beispiele. Auftrag der Sozialarbeit ist es, sozialen Ausschluss zu verhindern oder wieder aufzuheben. Wenn die fehlende Arbeit große Gruppen von Marginalisierten schafft, muss die Sozialarbeit sich dem zuwenden und auch in großem Maßstab denken. Für mich ist Sozialarbeit politisch. Sie muss sich auch wieder viel mehr in die Sozialpolitik einmischen. Wer sonst soll das machen, wenn nicht wir, mit unserer Erfahrung und unserem Wissen? Sozialarbeit ist eine Menschenrechtsprofession.
Mit helfen hat das also nichts zu tun?
Schon Alice Salomon, die ja die Wegbereiterin der Sozialen Arbeit als Wissenschaft war, hat gesagt: Mit einem warmen Herzen allein erreicht man nichts. Man braucht eine Ausbildung und möglichst viel Wissen und Kompetenzen, um mit anderen umzugehen – einschließlich der Kompetenz, seine eigene Person einschätzen zu können.
Sozialarbeit hat dennoch lange den Betroffenheitsaspekt betont.
Es war ein großer Fehler vor allem in den 70er- und 80er-Jahren, dass sie versucht hat, in die therapeutische Richtung zu gehen und sich stark auf Probleme der Mittelschicht fokussiert hat. Sozialarbeit als lebendige Profession geht eben auch nach dem Trial-and-Error-Motto: Versuch und Irrtum.
Die Frage, wer sie finanziert, ist dabei unerheblich?
Sozialarbeit ist in den vergangenen Jahren stark ökonomisiert worden. Die Frage nach der Effizienz wurde von politischer Seite in den Vordergrund gestellt. Was nicht gesehen wird: welche Leute gar nicht in die Situation kommen, für den Staat eine finanzielle Last zu werden, weil die Sozialarbeit präventiv eingesetzt wurde. Das finde ich politisch unverantwortlich.
An welche Gruppen denken Sie?
An Kinder und Jugendliche. Vor allem an die mit Migrationshintergrund. Das sind in Berlin immerhin 40 Prozent. Die Jugendeinrichtungen sind für viele von ihnen alternative Plattformen, um sich anders als in ihren Herkunftsfamilien zu erfahren. Um Selbstbewusstsein zu entwickeln. Das ist doch wichtig für eine Leben zwischen zwei Kulturen. Man kann die Kinder doch nicht erst wahrnehmen, wenn sie auffällig werden.
Können Sie Ihre Sicht auf die Gesellschaft einmal anhand von Hellersdorf erklären? Die Alice-Salomon-Fachhochschule sitzt hier – gegen Ihren erklärten Willen.
Mittlerweile sind wir hier aber angekommen. Hellersdorf ist als Berliner Bezirk atypisch. Auf das platte Land wurden Hochhäuser hingestellt. Die Neubauten waren damals beliebt bei Akademikern und jungen Familien. Viele haben die Wende ganz gut überstanden. Deshalb ist Hellersdorf ein sehr junger Bezirk und war bis vor ein paar Jahren sogar einer, in dem berlinweit die zweithöchsten Haushaltseinkommen nach Zehlendorf erzielt wurden. Erst durch Abwanderung hat es sich in den letzten Jahren verändert. Zugezogen sind Aussiedler mit den entsprechenden Problemen, vor allem der Arbeitslosigkeit und den Jugendgangs. Die Ausgrenzung und der Rassismus gegenüber den Aussiedlern ist enorm. Dazu kommt noch viel Gewalt in der Familie.
Welche sozialarbeiterischen Lösungen schlagen Sie für Hellersdorf vor?
Straßensozialarbeit. Leider wird da sehr stark gekürzt. Bei einer Veranstaltung, die wir dazu machten, meldete sich ein 16-Jähriger: Bisher bin ich bei allen Problemen zu Streetworkern gegangen. Zu wem soll ich, wenn die weg sind? Dafür werde ich teuer, wenn ich dann ins Gefängnis komme. – Der sah das ganz klar.
Spiegelt die Sozialarbeit die Ungerechtigkeit der Gesellschaft?
Sie reagiert darauf. In letzter Zeit habe ich manchmal den Eindruck, die Gesellschaft entwickelt sich zurück ins vorvorletzte Jahrhundert. In sozialpolitischen Diskussionen taucht etwa wieder auf, dass es auf der einen Seite Bedürftige gibt, die es verdienen, berücksichtigt zu werden – Kranke, Arbeitsunfähige etwa. Auf der anderen Seite gibt es die unverdient Bedürftigen. Ihnen wird unterstellt, dass sie gar nicht arbeiten wollen und es nur auf die Sozialhilfe abgesehen haben. Diese Diskussion gab es damals auch schon. Die einen wurden unterstützt, die anderen wurden ins Arbeitshaus oder ins Gefängnis gesteckt. Auch wir an der Fachhochschule haben mitunter konservative Studenten, die solche Ideen verbreiten. Hier studieren nicht die besseren Menschen.
Wie prägt Sie die lebenslange Auseinandersetzung mit Sozialarbeit?
Ich bin ja durch die 68er, aber auch durch meine teils jüdische Familie und die Auseinandersetzung damit geprägt. Wir sind die Generation, die nach dem Krieg als erste die Chance suchte, auch suchen musste, eine humane Gesellschaft aufzubauen. Dafür haben wir viel in Kauf genommen. Dabei ist es eine Leidenschaft, Handlungsmöglichkeiten zu finden, die die sozialen Aspekte einer Gesellschaft stabilisieren. Was die Arbeit als Rektorin einer Fachhochschule angeht, da ist Leidenschaft allerdings auch mit Härte gepaart. Ich muss ja Entscheidungen treffen. In einer Führungsposition sollte man nicht davon ausgehen, dass man geliebt wird. Meine Arbeit ist trotzdem mein Leben.
Sie sind die Vordenkerin eines weiblichen Berufsstandes, gelten indes auch als Männerfreundin. Geht das zusammen?
Ich bin Feministin, aber ich kann nur gemeinsam mit Männern etwas verändern und nicht gegen sie. Wir brauchen mehr Männer in der Sozialarbeit.
Warum?
Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft, in der die Rolle der Frau wieder verstärkt umstritten ist. Migrationsarbeit kann man aber nur gemeinsam mit den Männern machen. Ich bin eine Gegnerin des Kopftuchs. Es ist für mich ein Zeichen der Unterdrückung. Aber dies deutlich zu machen, das geht nur, wenn man die Männer aus diesen Kulturkreisen erreicht. In der Migrationsarbeit kommen deutsche Sozialarbeiterinnen allerdings kaum an die Männer mit patriarchalem Frauenbild heran. Da müssen Männer vermitteln – möglichst sogar Männer aus dem gleichen Kulturkreis.
Machen Sie auch anderes, als nur für die Sache zu kämpfen?
Natürlich bin ich eine Kämpferin. Ich finde wichtig, dass man streiten kann. Aber schöne Reisen, Wein, gutes Essen und Zusammensein liebe ich auch. – Sagen Sie, darf ich eine Zigarette rauchen?
Bitte.
Die Anzahl der Leidenschaften bleibt immer gleich. Wenn ich aufhören würde zu rauchen, würde ich mir eine andere Leidenschaft zulegen. Rauchen Sie nicht?
Nur bei Liebeskummer.
Na gut, das verstehe ich. Da rauche ich auch mehr als sonst.