piwik no script img

Archiv-Artikel

Rückkehr der Verdrängten

Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Obdachlosen stellt einen Fortschritt dar Eine Million Dollar Schadenersatz und eine Bannmeile sind die Forderungen von Mr. Kemp

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Es sind eigenartige Szenen, die sich da in der Grand Central Station abspielen. In der Cafeteria unter der Haupthalle des prunkvollen New Yorker Pendlerbahnhofs sitzt ein obdachloser Mann, umringt von seinen Plastiktüten. Er studiert mit einer Lupe angestrengt eine Zeitung, die er sich aus einem Recycling-Container am Bahnsteigzugang gefischt hat. Und ein paar Meter weiter steht an einem Tisch ein alter schwarzer Mann in Filzpantoffeln. Vor sich hat er Papiere ausgebreitet, auf denen er mit einem Bleistift herumkritzelt. Es soll so aussehen, als arbeite er an etwas. Dabei ist nicht zu übersehen, dass er geistig verwirrt ist.

In einiger Entfernung, an der Wand des Saals, lauert eine Gruppe Polizisten und überwacht die Szenerie. Wenn auf den Sesseln im Wartebereich in der Mitte des Raums einer der etwa zehn Obdachlosen hier einnickt und zur Seite kippt, wird er mit dem Schlagstock leicht angestoßen und geweckt. Sich auf den Boden zu setzen oder sich gar hinzulegen ist tabu. Die Ordnungshüter achten penibel darauf, dass die Obdachlosen nicht das aufgeräumte Bild des erst vor kurzem für 250 Millionen Dollar renovierten Beaux-Arts-Baus stören. „Aber solange ich hier sitze und etwas tue“, erklärt Walter, der Zeitungsleser in der Cafeteria, „lassen sie mich in Ruhe.“ Dann hebt er wieder seine Lupe vor die Augen.

Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizisten und den Homeless mag absurd wirken – tatsächlich aber stellt es einen Fortschritt dar. Vor sieben, acht Jahren noch wären die New Yorker Obdachlosen, die sich bei kaltem Wetter hier hätten aufwärmen wollen, gar nicht erst in den Bahnhof hineingekommen. Der damalige Bürgermeister Rudolph Giuliani hatte knallhart seine Stadtsäuberungspolitik durchgedrückt und alles, was die öffentliche Ordnung, das Auge und die empfindliche Nase der New Yorker Gesellschaft und der zahlenden Touristen stören könnte, entfernen lassen.

Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg hingegen lässt die Obdachlosen weder verhaften noch einfach abtransportieren. Der öffentliche Raum soll aufgeräumt bleiben, aber es wird auch niemand mehr mit Gewalt verscheucht. Auch die New Yorker Bürger scheinen nach den kalten und egoistischen 90er-Jahren wieder ein wenig mitfühlender und toleranter geworden zu sein. „Ich habe kein Problem damit, wenn sie hier sitzen“, sagt ein Frau, die zwei Stühle neben einem Obdachlosen auf ihren Zug wartet. „Wo sollen sie denn auch sonst hin, wenn es kalt wird?“

Ganz ausgestorben ist die alte Attitüde, dass man von Armut und Elend nicht behelligt werden möchte, allerdings nicht. Die edle Fifth Avenue beispielsweise ist sehr darauf bedacht, ihr sauberes Bild von einem glitzernden Wunderland des Konsums zu schützen. Fahrzad Barmani etwa, ein persischer Herrenkonfektionär in Höhe der 47. Straße, ist sehr empfindlich, wenn es darum geht, seinen schmalen Laden und den Bürgersteig davor von allem freizuhalten, was seine Kunden abschrecken könnte. „Ich würde alles tun, um ihn zu entfernen“, antwortet er auf die Frage, wie er sich verhalten würde, wenn sich vor seinem Geschäft ein Obdachloser niederließe. „Ich würde dafür bezahlen, dass er abtransportiert wird. Oder ich würde Hunde auf ihn loslassen. Schließlich zahlen wir hier enorme Mieten.“ Wäre der vornehme Schneider handfester veranlagt, würde er vermutlich auch nicht zögern, einen Obdachlosen eigenhändig zu verprügeln – wie es in letzter Zeit vermehrt Teenager im ganzen Land getan haben sollen.

Es verwundert kaum, dass Mister Barami volles Verständnis für seinen Kollegen hier um die Ecke hat, den Antiquitätenhändler Karl Kemp an der Madison Avenue. Kemp hat kürzlich in Manhattan für Schlagzeilen gesorgt, weil er vier Obdachlose auf eine Million Dollar Schadenersatz verklagte. Die drei Männer und die Frau, die sich vor Kemps exklusiver Boutique niedergelassen hatten, hätten Kunden davon abgehalten, das Geschäft zu betreten, heißt es in der Klage. Kemps nächstes Ziel ist es, gerichtlich zu erwirken, dass die Obdachlosen einen Abstand von mindestens dreißig Metern zu seinem Laden einhalten müssen.

Der noble Einzelhändler sehnt sich offenkundig nach den Zeiten zurück, in denen die von Giuliani ermächtigte Polizei Obdachlose wegen geringster Ordnungswidrigkeiten ins Gefängnis steckte. Die Kampagne ist bis heute als „Krieg gegen die Obdachlosen“ berüchtigt, sie war Teil von Giulianis so bewunderter wie kritisierter „Zero Tolerance“-Politik zur Verbrechensbekämpfung. Die Verwahrlosung New Yorks in den 70er- und 80er-Jahren, so Giulianis Philosophie damals, habe den Boden für eine Zunahme der Kriminalität bereitet. Würde man öffentliches Trinken und Urinieren verbieten, Graffiti und eingeschlagene Scheiben, Müll und eben auch Obdachlose entfernen, hoffte der Bürgermeister, würde die Stadt sicherer werden.

Giulianis Rechnung ging auf. Der Eindruck einer verbrechensgeplagten Metropole, wie er in den Jahren vor seiner Amtszeit existierte, wich dem einer pulsierenden, sicheren Großstadt. Es folgte ein kräftiger Wirtschaftsaufschwung, weil sich die Leute auch nachts wieder auf die Straßen trauten. Heute ist New York so sauber und sicher wie nie.

Aber seit Michael Bloomberg Bürgermeister wurde und weniger brutal gegen die Obdachlosen in der Stadt vorgeht, kommt zum Vorschein, was man ohnehin geahnt hatte. Giuliani hat zwar die Zeltlager und Shanty-Towns unter der Manhattan Bridge oder am Hudson River abgeschafft und die Obdachlosen von der Fifth Avenue vertrieben. Das Problem der Homeless hat er jedoch nicht gelöst. Gerade hat die New York Times die aktuellen Zahlen veröffentlicht – sie sind bedrückend hoch (s. Kasten). Weil sie jetzt nicht mehr so brutal bekämpft werden, tauchen die Obdachlosen überall in der Stadt wieder auf.

Bloomberg möchte weder so kaltherzig wirken wie sein Vorgänger, noch möchte er, dass alte Sitten einreißen und sich wieder der Schmuddel auf den Straßen New Yorks breitmacht. 27 Millionen Dollar gibt die Stadt pro Jahr für ihre Obdachlosen aus. Die überfüllten Heime und Asyle sollen durch Neubauten und erschwingliche Wohnungen entlastet werden, die Lebensqualität der Unterkünfte will Bloomberg verbessern, um diese für die Obdachlosen attraktiver zu machen. Dort sollen verstärkt Sozialarbeiter an der Resozialisierung der Leute arbeiten. Um sie von der Straße weg und in die Asyle zu bringen, patrouillieren „Outreach-Teams“ durch die Stadt, die sanft, aber beharrlich versuchen, sie in die Unterkünfte zu locken. „Wir schleppen sie aber nicht ab“, erklärt Muzzy Rosenblatt, Leiter der Organisation Bowery Residence Committee, die im Auftrag der Stadt versucht, die Obdachlosen von der Straße zu holen. „Aber wir gehen immer wieder zu denselben Leuten und reden mit ihnen, bis sie uns vertrauen und mitgehen.“

Um den Erfolg seiner Programme zu demonstrieren, lässt Bloomberg einmal im Jahr die Obdachlosen zählen. Skeptiker trauen den auf diese Weise erhobenen Daten allerdings nicht. Die Methode, an einem kalten Wintertag 24 Stunden lang mit einem Heer von Freiwilligen eine Stichprobe zu nehmen, wird als unzuverlässig angesehen.

Wer an einem beliebigen Wochentag morgens um zehn an der Ecke 29. Straße und Ninth Avenue vorbei geht, gewinnt jedenfalls nicht den Eindruck, dass sich das Obdachlosenproblem einer Lösung nähert. Hier unterhält die Church of the Holy Apostle die größte Suppenküche der Stadt, jeden Tag werden 2.000 Mahlzeiten an Bedürftige ausgegeben. Schon eine halbe Stunde bevor die Kirche ihre Tore öffnet, stehen hunderte zerlumpter Gestalten den ganzen Block entlang bis zur Achten Avenue. Wer sich seit Giulianis Verscheuchungskampagne der Illusion hingegeben hatte, dass es in New York kein Elend mehr gäbe, wird hier eines Besseren belehrt. Zwei Millionen Dollar aus privaten Spenden gibt die Kirche jedes Jahr für ihre Suppenküche aus. Und der Bedarf steigt.

Die meisten New Yorker wissen, dass die Obdachlosen nicht einfach aus den Straßen der Stadt verschwinden werden, und haben sich auf Koexistenz eingerichtet. Der 89-jährige Milliardär Edward Baron Cohen, Nachbar des Antiquitätenhändlers Kemp, hatte seit Jahren einen der nun verklagten Männer unterstützt. Der Obdachlose durfte seine Plastiktüten hinter den Säulen am Eingang zu Cohens Stadtvilla verstauen, und Cohen brachte ihm regelmäßig Lebensmittel. „Wir sind seit 14 Jahren Freunde“, erklärt Cohen und bezeichnet die Klage des Antiquitätenhändlers als „völligen Bullshit.“

Ivan, Verkäufer in einem Plattenladen in der Grand Central Station, erzählt, dass jeden Tag Obdachlose seinen Laden bevölkern: „Sie kommen rein, hören eine Weile Musik und gehen dann wieder. Ich kenne sie schon mit Namen.“ Wenn zum Feierabend die zahlende Kundschaft das Geschäft betritt, bittet Ivan die Obdachlosen freundlich, den Laden zu verlassen. Er holt einen Duftspender unter der Theke hervor, um den Geruch der Straße zu vertreiben. „Sie verstehen das und gehen meistens, ohne zu mucken“, sagt Ivan. Die Polizei, gar einen Rechtsanwalt braucht Ivan jedenfalls nicht.