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Archiv-Artikel

Kutter der kommunikativen Konzentration

THEORIE UND MUSIK In seiner neuen Arbeit „Global Design“ untersucht der Berliner Künstler Christian von Borries drei Tage lang das Zusammenbrechen des Kapitalismus – und wie sich dadurch musikalische Inhalte verändern

1998 beginnt Christian von Borries im großen Stil mit dem „musikmissbrauch“

VON ROBERT MATTHIES

Welche Möglichkeiten gibt es, sich Musik anzueignen? Welche Rolle spielt der Kontext für ihre Rezeption? Wie macht man die unterschiedlichsten Orte für die Aufführung von Musik nutzbar? Und welche Rolle spielt dabei ihre historische Schichtung? Nur die erste Flöte in der Züricher Oper zu spielen reicht Christian von Borries schon lange nicht mehr.

Erst mausert sich der Wahlberliner zum Dirigenten, dann beginnt er 1998 im großen Stil mit dem „musikmissbrauch“ und präsentiert seitdem ungewöhnlich bearbeitete, anders gebrauchte klassische Musik, spielt sie zu schnell, zu langsam, ergänzt Fragmente, verändert Räume akustisch, lässt sein Publikum auf Krankenhausbetten um das Orchester herumfahren. Er komponiert für die documenta 12 gemeinsam mit dem Künstler-Paar Alice Creischer und Andreas Siekmann kollektive „Machbarkeitsstudien“ zur „Negation von Arbeit“, fragt gemeinsam mit der Videokünstlerin Catherine Sullivan und den Berliner Symphonikern an der Volksbühne wozu die Bourgeoisie die Verzweiflung braucht und spendiert dem Kosovo 2008 eine angemessene Nationalhymne: ein Sample-Mash-Up der deutschen, serbischen, albanischen und europäischen Hymne. Denn das Sampling ist für von Borries nicht mehr als eine „uralte europäische Kulturpraxis“ – und das Urheberrecht folglich nicht weniger als Zensur.

Im letzten Jahr dann wird von Borries auch noch zum Filmemacher und untersucht in „The Dubai in me“ die Diskrepanz zwischen den Bildern vom entfesselten Wachtum des arabischen Emirats und der Rechtlosigkeit der Arbeiter, die es bauen müssen. Und beginnt folgerichtig selbst zu bauen: gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Vera Tollmann errichtet er in Selbstbauweise auf einer alten Fabrik in Berlin ein Wohnhaus aus Gewächshausteilen und einem beheizbaren Kern – und bekommt im letzten Semester prompt eine Gastprofessur am Nürnberger Lehrstuhl für Architektur und Stadtplanung.

In seiner neuen Arbeit „Global Design“, die er von morgen bis Sonntag auf dem Schiff MS Bleichen im Hansahafen inszeniert, spielt wieder die Musik eine Hauptrolle. Gemeinsam mit drei eigenwilligen Experten für das Ökonomische und den Jungen Symphonikern untersucht von Borries das Zusammenbrechen des Kapitalismus – und wie sich dadurch musikalische Inhalte verändern. Dafür sampelt er Musik aus dem Netz, lässt sie digital in Partituren übersetzen, verändert diese und lässt sie von den Jungen Symphonikern spielen. Dazu gibt es Vorträge des Berliner Literatur- und Kulturwissenschaftlers Joseph Vogl – der sich in seinem aktuellen Buch mit dem „Gespenst des Kapitals“ auseinandersetzt –, des Zürcher Autoren Gian Trepp – der sich unter anderem mit Geldwäsche, Steuerhinterziehungen oder der „Islam Finanz“ beschäftigt – und des Pekinger Historikers und Soziologen Wang Hui – ein profilierter Kritiker der chinenischen Wirtschaftsreformen. Zu sehen gibt es außerdem einen Film über die Wirtschaftszentren der Zukunft.

■ Fr, 8. 4., 20 Uhr mit Joseph Vogl und Gian Trepp; Sa, 9. 4., 20 Uhr mit Gian Trepp und Wang Hui; So, 10. 4., 17 Uhr mit Wang Hui, Joseph Vogl und Gian Trepp; MS Bleichen, Veddeler Damm; Bootsshuttle jeweils eine Stunde vor Beginn ab Anleger Sandtorkai und nach der Veranstaltung zurück