: Die gefundene Tochter
HIPPEN EMPFIEHLT In dem Independentfilm „Willkommen bei den Rileys“ hat Jake Scott eine klischeebeladene Grundsituation überraschend und bewegend weiterentwickelt
VON WILFRIED HIPPEN
Väterlicher Mann trifft junge Prostituierte – kann man diese Geschichte heute überhaupt noch erzählen? Das Klischee ist inzwischen so ausgefranst, dass es selbst in den trivialsten Genreformaten kaum noch verwendet wird. Jeder weiß, wie es weitergeht mit den beiden: natürlich will er sie retten und natürlich hat sie unter der harten Schale einen weichen Kern. Aber erzählen wir uns nicht im Grunde die gleichen paar Geschichten immer wieder neu? Und ist nicht das „wie“ viel entscheidender als das „was“?
Jake Scott (Sohn von Ridley und Neffe von Tony, die den Film mitproduziert haben) gibt sich in „Welcome to the Rileys“ Mühe, die melodramatischen Effekte dieser Standard-Konstellation zu vermeiden. Jeder Zuschauer spürt, wo sie lauern, und meist kann man auf die Minute genau vorhersagen, wann in einem konventionellen Plot zum Beispiel der Zuhälter des Mädchens auftauchen und den Helden bedrohen wird, oder wann Zeit für die große Szene ist, in der sie ihr altes Leben hinter sich lässt.
All das passiert hier nicht, aber Scott ist natürlich so klug, dass er mit den Erwartungen des Zuschauers spielt, sie enttäuscht und gerade dadurch seine Figuren interessant macht. Statt als Variationen der Archetypen zu agieren, sind sie widersprüchliche und lebendige Charaktere, die selber nie gedacht hätten, dass ihnen so etwas passieren könnte.
Denn im Leben der Rileys scheint überhaupt nichts mehr zu passieren. Nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer 16jährigen Tochter haben beide sich völlig in ihre Gewohnheiten eingesponnen: Doug in seine Arbeit als Geschäftsmann und rituelle Vergnügungen wie der Poker-Abend und der wöchentliche Besuch einer Geliebten, Lois in eine Angstneurose, die es ihr seit Jahre unmöglich macht, das Haus zu verlassen.
Auf einer Geschäftsreise nach New Orleans findet sich Doug plötzlich in einer Striptease-Bar wieder und wird von der noch sehr jungen Mallory als leichtes Opfer erkannt. Doch er will nur mit ihr reden und hier folgt der Film zwar noch den Genrekonventionen, nach denen jede Prostituierte sofort in Panik gerät, wenn ein Kunde ein Gespräch mit ihr führen will, aber spätestens nachdem Doug den Küchenabfluß und die Toilette von Mallory repariert, handeln die Protagonisten so unberechenbar und ihrer Natur gemäß, dass aus dem Film statt eines sentimentalen Rührstücks eine nuancierte Charakterstudie wird.
Mallory, Doug, vor allem aber Lois entwickeln sich in unerwartete Richtungen, und Scott inszeniert diese Entwicklungen subtil und voller Zuneigung zu seinen Figuren. Dabei arbeitet er geschickt mit der ausgeprägten Körperlichkeit der SchauspielerInnen. James Gandolfini, der als Gangsterboss in der Fernsehserie „The Sopranos“ bekannt wurde, ist hier ein sanfter Riese, der sich langsam aus der Trägheit seines alten Lebens heraus zu bewegen beginnt.
Melissa Leo, die für ihre Nebenrolle in dem ebenfalls in dieser Woche anlaufenden Boxer-Drama „The Fighter“ den Oscar gewann, gibt als Lois eine zuerst ganz in ihrer Trauer verfangene Frau, die sich mit erstaunlicher Energie selbst befreit. Mallory wird schließlich von Kristen Stewart gespielt, die durch die Rolle der porzellanhäutigen Heldin in der „Twilight“-Trilogie ein Teenageridol wurde. Hier gelingt es ihr, ihre Verletzlichkeit hinter einer Fassade von Trotz und Provokationen so fadenscheinig zu verbergen, dass der Zuschauer sie mit Dougs Augen als ein verlorenes Kind sieht. Dass sie sich hier außerdem auch noch mit Hautproblemen herumschlagen muss, dürfte für ihre Fangemeinde wohl der größte Schock des Films sein.