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Archiv-Artikel

Die Lust des Erbes

Verlage im Norden (I): Merlin. Vor zwei Jahren hat Katharina Meyer den Verlag von ihrem Vater übernommen. Sie hat Akzente gesetzt – ohne die Traditionslinie zu stören. Die ist nämlich literarisch, tapfer und gut. Schließlich hat der Magier Merlin die wilden Artus- Ritter zu Heroen der Idee gemacht

Das Kalkül spielt noch immer keine Hauptrolle hier, so viel ist klar

aus Gifkendorf BENNO SCHIRRMEISTER

Der Verlag hält auch Schafe. Zwei Säcke Futter liegen vorm Bücherlager, das wird die Scheune gewesen sein, aber die Tiere grasen heute hinterm Haus. Straßennamen gibt es nicht. Die Anschrift lautet einfach: Gifkendorf 38. Und so sieht es auch aus: Backstein, ein Resthof, Obstbäume, sattes Gras. Idyllisch. Heidedichter? Hat der Merlin-Verlag trotzdem nicht im Programm. Nicht im entferntesten. „Glauben Sie“, fragt Katharina Meyer, drinnen, am Eichentisch unter hellgelben Fliesen in der großen Wohnküche „glauben Sie, dass das noch eine Zukunft hat?“

Katharina Meyer ist die Verlegerin. Vor zwei Jahren hat sie die Firma von ihrem Vater übernommen, der nach wie vor mitmischt. Will sie wirklich eine Antwort? Ehrlich wäre: Keine Ahnung. Das lässt sich nur hoffen. Aber stimmen die Voraussetzungen? „Es war eine Zeit besonders reichhaltiger literarischer Kreativität“, heißt es im frisch gedruckten Programm zum fünfzigsten Jahr, „als Andreas J. Meyer in Hamburg den Merlin-Verlag gründete“.

Jean Genet war drei Jahre lang der einzige Autor, den Meyer herausgab. Der Franzose war damals der Dramatiker schlechthin: Homosexuell in Text und Tat, ein Mann mit Knast-Erfahrung, der mit seiner kriminellen Vergangenheit kokettierte, seine Vichy-Verstrickungen aber verschwieg. Ein hochpolitischer Schriftsteller, der, so Jacques Derrida, „immer da war, wo es knallt“.

Schon 1952 hatte ihm Jean-Paul Sartre einen dickleibigen Essay gewidmet: „Saint Genet“ heißt das Werk, „Komödiant und Märtyrer“. Genet war aber auch ein heißes Eisen, von dem Großverleger Rowohlt 1956, kaum dass sich die Justiz gerührt hatte, schnell die Finger ließ. Und Strafe zahlte. Auch als Merlin 1960 Genets Roman „Notre Dame des Fleurs“ herausgab, schritt der Staatsanwalt ein – wegen „Verbreitung pornografischer Schriften“. Was folgt, nennt Die Zeit 25 Jahre später „den wichtigsten Literaturprozess der Nachkriegszeit“. Er endet mit Freispruch.

Heute gilt Genet als Klassiker. Die literarische Kreativität lässt zu wünschen übrig, erst recht ihre gesellschaftliche Bedeutung, ganz zu schweigen vom Theater. Und Merlin hat die Genet-Gesamtausgabe an den Hacken. Schließlich muss man seine Klassiker pflegen: Band VI war im vergangenen Jahr der einzige Titel. Mehr war nicht zu stemmen. 700 Seiten hat das Buch, schöner blauer Leineneinband: „Ein verliebter Gefangener“ heißt das opus posthumum. Es verbindet die Black-Panthers, den RAF-Terror und die PLO. Eine eigene Neuübersetzung hat die Verlegerin in Auftrag gegeben. Nur: Wird das jemand lesen? Andreas Meyer hat einmal als Lebensmotto angegeben, er glaube an den Sieg der kleinen Zahl. Katharina Meyer sagt: „Bücher sind einfach kein Massenprodukt.“ Das klingt etwas diplomatischer.

Fünf Personen: Das ist schon die ganze Belegschaft. Mittags wird in der Küche gepicknickt. Der Senior-Chef ist heute nicht da, was vielleicht ein Glück ist, weil Heldenepik eine gewisse Verführungskraft hat und die alten Geschichten… unwiderstehlich.

Horst Janssen, zum Beispiel, ist so eine Figur. Seit Ende der 60er-Jahre verlegt Meyer neben Literatur auch Grafik. Janssen ist schon 1969 gleich mit drei Titeln dabei: Illustrationen zu Günter Grass‘ Langgedicht „Die Schweinekopfsülze“ , seinen Märchenpastiches „Paul Wolf & die sieben Zicklein“ sowie „Hensel und Gretel“. Verleger und Künstler wurden Freunde. Da muss es zu Anekdotischem gekommen sein. In der zehn Jahre alten Verlagschronik gibt es eine Foto-Short-Story von Janssens letztem Besuch in Gifkendorf 1994: Der Künstler kugelt sich vor dem Verlagsgebäude übern Rasen. Und die Schafe schauen staunend zu.

Katharina Meyer ist eine schmale Frau, sie hält sich ein bisschen krumm, das tun Menschen oft, die viel am Schreibtisch arbeiten, und es wäre blöd zu sagen: Jaja, sie hat die Last des Erbes geschultert. Es wäre wohl auch falsch: „Konflikte“, sagt die Verlegerin, „hat es beim Generationswechsel nie gegeben.“

Es sei nicht so gewesen, dass die Eltern gesagt hätten du machst das, du übernimmst den Verlag. Wenn sie mitgeholfen habe, sei das „okay gewesen“. Und wenn nicht – auch: Die ältere Schwester habe nie etwas mit dem Geschäft zu tun haben wollen, was die Eltern respektierten. Und sie selbst habe ja Archäologie studiert, in Hamburg und Paris. Promotionsthema: Hispano-römischer Wohnbau.

Das klingt nicht nach Buchbranche. Aber schon während ihrer Zeit als Mitarbeiterin am Lehrstuhl sei sie wieder reingerutscht in den Betrieb. „Schließlich“, sagt Meyer, „wollte ich das einfach ausprobieren“, und schickt hinterher: „Klar, dass das total in die Hose gehen kann.“

Sie hat Akzente gesetzt. Dass ihr Vater das Riesenunternehmen der Genet-Ausgabe immer weiter hinausschob, ist ein offenes Geheimnis. Der Verzögerungstaktik hat die Tochter ein Ende bereitet. Offensichtlicher ist natürlich, dass es seit kurzem eine neue Regionalreihe gibt – entstanden aus der Zusammenarbeit mit Museen.Und weil Ausstellungsmacher Marc Bastet schon lange als Grafiker für den Verlag arbeitet: „Die Slawen im Wendland“ und „Die Germanen zwischen Heide und Wendland“ hießen die ersten Titel. Im Frühjahr folgt die Neuauflage eines in einem eingegangenen Verlag erschienen Mühlenführers. Fein gemachte „Mitnahme-Bücher“, die in den regionalhistorischen Institutionen ausliegen sollen. Und auch Anzeigeneinnahmen einspielen. Ähnlich rechnet Meyer auch fürs erste Kinderbuch im Verlagsprogramm: „Lioba und das Geheimnis der verschwundenen Salzfuhrwerke“ spielt im Lüneburg des 14. Jahrhunderts. „Wir brauchen die Verankerung in der Region“, sagt Meyer. Wenigstens die lokalen Buchhändler sollten doch die Merlin Titel auslegen.

Merlin, der Zauberer, brachte die Gralssuche an den Artus-Hof, machte die Ritter zu Heroen der Idee. Und das Kalkül spielt in Gifkendorf stets bloß eine Nebenrolle. Am Algerier Boualem Sansal hält Meyer weiter fest. Auch die Buchkritik liebt ihn. Aber seine beiden Romane stapeln sich in großer Stückzahl in den Regalen des Lagers. Ebenso verfolgt die Verlegerin die Tradition, Bühnentexte als Bücher herauszubringen. Da würde jeder Wirtschaftsprüfer sagen: Was soll denn dieses. Aber die Autoren freuen sich einen Ast: Endlich nicht mehr nur im Schnellhefter! Ein echtes Buch! Aus einem Drama! Und manchmal, ganz selten, werden einzelne Titel in Klassensätzen bestellt. „Born in the RAF“ vom Hamburger Erfolgsdramatiker John von Düffel etwa, das erlebt schon die neunte Auflage. Aber die Entdeckungen: die Französin Marie NDiaye, der Katalane Carles Battle – damit schreibt man weiter unverdrossen Miese.

Im Bücherlager hängt, über Metallregalen, ein großes Gemälde. Unverkennbar: Johannes Grützke. Es muss aus den 80er-Jahren stammen, als Genet Peter Zadeks liebster Dramatiker und der Maler des Regisseurs liebster Bühnenbildner war. Und der im Nebengebäude lebte. Ein Familienporträt, die Meyers auf der Küchenbank, im Hintergrund – blassgelbe Kacheln. ‚Der hasst euch‘, habe ihr Onkel ausgerufen, als er das Bild zum ersten Mal sah, erzählt Meyer.

Aber die Verzerrungen sind kein Spott, sondern Aussagen, und es scheint, als wären die Rollen schon damals klar verteilt gewesen: Im Hintergrund, zentral, mit jovialem Lächeln: der Verlagsgründer. Von rechts ragt, auf überlangem Hals, der Kopf der älteren Schwester über den Tisch. Im Vordergrund, geduckt, die grauhaarige Mutter, mit besorgtem Blick: Sie war bis kurz vor ihrem Tod für den Vertrieb zuständig und reiste als Vertreterin des Unternehmens durchs Land. Hinter ihr, aber sie mit einer riesigen Stirn weit überragend, ihre Tochter Katharina. Und möglicherweise ist ihr Kopf sogar noch ein bisschen größer als der des Vaters. Aber das ist so ohne weiteres nicht zu erkennen.