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Archiv-Artikel

Das große Kribbeln

Nicht nur beim Menschen machen sich gerade Frühlingsgefühle breit. Auch Tiere, deren Lebensinhalt darin besteht, uns zu quälen, fühlen sich nach dem warmen Winter pudelwohl. Experten sehen die Stadt schon im Würgegriff von Läusen, Mücken, Zecken und Schnecken. Aber mit den Klimakapriolen kommt auch Erfreuliches nach Berlin – exotische Schmetterlinge etwa

VON SVEN KULKA

Mit ein wenig Fantasie hört man bereits ein feines Schmatzen in den Wipfeln der Berliner Nadelbäume: Die Fichtenröhrenlaus bereitet sich auf ein ausgedehntes Festmahl vor. Die von Forstwirten gefürchtete Art Liosomaphis abietinum hatte durch das milde und relativ trockene Wetter hervorragende Bedingungen, den Winter zu überstehen. Wird auch das Frühjahr überdurchschnittlich warm, könnten sich die Krabbeltiere im Sommer massenhaft verbreiten. Tannen und Fichten geht es dann an den Kragen: „Die Tiere saugen den Nadeln regelrecht den Saft ab“, sagt Holger Schmidt, Leiter des Berliner Pflanzenschutzamts.

Zwar sind Nadelgehölze im Berliner Stadtgrün in der Minderheit. Aber Experten sehen nicht nur für die Fichtenröhrenlaus, sondern für fast alle Schmarotzer goldene Zeiten anbrechen, weil sie die kalte Jahreszeit so komfortabel überstehen konnten. Das bestätigt auch Rainer Gsell, Chef der Berliner Sektion im Deutschen Schädlingsbekämpfer-Verband. „Nach milden Wintern haben wir im Allgemein mehr Schädlinge als nach harten.“ Vor allem Ameisen und Schaben, aber auch Säugetiere wie Mäuse und Ratten hätten gute Nahrungsbedingungen vorgefunden und vermehrten sich schneller. Die wenigen Frosttage im Januar hätten vielen Arten so gut wie nichts anhaben können, so Gsell.

Der Sommer wird also hart – nicht nur, aber vor allem für Gartenbesitzer: Fachleute rechnen mit riesigen Mengen unerwünschten Getiers. „Das Problem ist, dass bestimmte Eier erst bei strengem Frost abgetötet werden“, sagt der Präsident des Zentralverbandes Gartenbau, Heinz Herker. Und Jochen Winkhoff, Herausgeber der Fachzeitschrift Gemüse, warnt vor einem Sommer voller Fressspuren: Die Ernte von Landwirten und Kleingärtnern sei durch eine ausgewachsene Schneckenplage bedroht.

Ein weiteres Problem, das der milde Winter für Gartenbesitzer mit sich gebracht hat, sind Pilze. Die seien, so Pflanzenschutzamtsleiter Schmidt, auf ihren Wirtspflanzen „nicht ausgefroren“. Mit hoher Wahrscheinlichkeit überlebt habe die Kräuselkrankheit, ein Pilz, der Pfirsichbäume befällt und sie an der Photosynthese hindert. Auch der Apfelmehltau hat beste Entwicklungschancen. Schmidt erwartet enorme Schäden und eine magere Ausbeute für Obstfans.

Andere Schädlinge gefährden nicht die Nahrungsmittelsicherheit, quälen aber den Menschen: Stechmücken. Auch sie vermehren sich derzeit ordentlich, sagt Schmidt. Schwärme der Quälgeister dürften die sommerlichen Grillpartys in Juck- und Kratzveranstaltungen verwandeln. Unauffälliger, aber viel gefährlicher, sind dagegen Zecken. Die Spinnentiere können Krankheiten wie die syphilisähnliche, bakterielle Borreliose oder die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) übertragen – eine Viruserkrankung, die in schweren Fällen zu Bewusstseinsstörungen, Lähmungen und komatösen Zuständen führt. Wegen des milden Winters warnen Insektenforscher vor gehäuften Zeckenbissen in Berlins Wald- und Seengebieten. Die ersten Nymphen – das frühe Entwicklungsstadium der Tiere – wurden bereits im Januar in den Waldgebieten gesichtet, weiß Holger Schmidt. Spaziergänger und Jogger sollten sich daher mit fester Kleidung vor den Parasiten schützen.

Aber nicht alle Fachleute stimmen in die Klage über den milden Winter ein. Ursula Müller, Geschäftsführerin des Freilandlabors Britz, hat das Gejammere satt: Selbst strenger Frost sei kein Garant dafür, dass es weniger Schädlinge gebe. Der vorletzte Winter sei beispielsweise sehr kalt gewesen, und trotzdem habe es im vergangenen Sommer nur so vor Schädlingen gewimmelt. Viele Pilze und Parasiten seien zähe Artgenossen und könnten oft mehrere Kälteperioden überleben.

„Wir sollten vielmehr das Gute des schönen Wetters sehen“, findet die Freilandlabor-Chefin. Im vergangenen Jahr seien einige Schmetterlingsarten gar nicht aufgetaucht, weil es zu lange zu kalt gewesen sei. Wenn Winter und Frühjahr hingegen mild ausfielen und man den allgemeinen Temperaturanstieg aufgrund des Klimawandels berücksichtige, fühlten sich auch Tiere in unserer Region wohl, die hier normalerweise nicht leben, so Müller. Ein Bekannter habe in Berlin schon einmal ein Taubenschwänzchen gesichtet, erzählt sie – eine besonders schöne Schmetterlingsart, die eigentlich in südlicheren Gefilden lebt.

Wissenschaftler halten es für möglich, dass sich die Verbreitungsgrenze mancher Insektenarten bei einer durchschnittlichen Erwärmung von einigen Grad um mehr als 1.000 Kilometer nach Norden verschieben könnte. In Deutschland würde in diesem Fall eine zusätzliche Generation pro Jahr heranwachsen, die Pflanzen schädigen könnte. Gärtner und Landwirte hätten mit aggressiverem Unkraut zu tun, da sich die Veränderung der CO2-Konzentration auf das Wachstum unerwünschter Pflanzen auswirken könnte.

Aus der Sicht von Ursula Müller macht es nicht viel Sinn, über kommende Plagen zu spekulieren. Viel wichtiger sei es hingegen, sich über die Gestaltung von Gärten und Balkonen mit hoher ökologischer Vielfalt Gedanken zu machen. Denn dort, wo Spinnen, Vögel, Igel und andere Tiere einen geeigneten Lebensraum vorfänden, hätten Schädlinge kaum eine Chance, sich massenhaft zu vermehren.

Problematisch wird es nur dann, wenn eine Art hierzulande gar keine natürlichen Fressfeinde zu fürchten hat – wie ein Insekt, das mit Sicherheit auch in den kommenden Monaten wieder eine Spur der Verwüstung in der Stadt hinterlassen wird. Gegen die Kastanienminiermotte hilft wohl auch weiterhin nur eins: Laub fegen.