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Archiv-Artikel

Sipos hat früh gewarnt

von MICHAEL STILLER

Peter Sipos kommt sich vor wie in einer Zeitmaschine. Wenn der 64-jährige Experte für den Handel mit osteuropäischen Ländern in England die Hiobsbotschaften von seiner früheren Firma Siemens hört und liest, werden bei ihm die schlimmen Jahre von 1998 bis 2005 wieder lebendig. In dieser Zeit musste er gegen den Münchner Konzern um seine Rehabilitierung kämpfen, weil er genau das getan hatte, was die Unternehmensspitze jetzt von allen ihren Mitarbeitern verlangt: Wachsam zu sein gegen unkorrekte Praktiken.

Damals berichtete Sipos, der von 1996 bis 1998 als Geschäftsführer der Siemens-Nixdorf Osteuropa (SNO) Einblick in die Siemens-Praktiken erhielt, von massiven Bestechungen bei einem Geschäft mit dem russischen Geheimdienst Fapsi an die Zentrale in München, unter anderem dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer und dem Osteuropa-Vorstand Volker Jung. Es wurde ihm nicht gedankt. „Sie wollten mich am langen Arm verhungern lassen“, sagte Sipos 2005, als er sich, eigentlich gegen sein besonnenes Naturell, zu einem Hungerstreik vor der Konzernzentrale in München entschloss.

Hehre Worte von Siemens

Sipos hatte ein Drehbuch für all die späteren Bestechungen geliefert, deren Aufdeckung durch die Staatsanwaltschaft München Siemens seit Monaten schwer zu schaffen machen. Aber er war einfach zu früh dran. Der Aufklärer verließ entnervt die Firma, und Siemens beschwor mit hehren Worten die Unternehmenskultur, die das von Sipos dokumentierte Verhalten nicht zulasse. Heute, nach einer Reihe von Affären ähnlichen Strickmusters, weiß Sipos, dass alles Gerede Schall und Rauch war. Hätte einer von denen, an die sich der Manager damals wandte, eine Generalrevision angeordnet und durchgegriffen, hätte Siemens seine Probleme noch selbst regeln können. Jetzt ist Feuer auf dem Dach.

Erst als mehrere Siemens-Mitarbeiter in Untersuchungshaft kamen und sich herauskristallisierte, dass etwa 500 Millionen Mark in illegale Kassen flossen, um an Aufträge in aller Welt zu kommen, widmet sich das Unternehmen den in Jahrzehnten eingeschliffenen kriminellen Praktiken. Jetzt gibt es einen Ombudsmann, an den sich Mitarbeiter, die etwas wissen, auch anonym wenden können, jetzt wird „horizontal und vertikal“ untersucht – und jetzt beteuern Heinrich von Pierer und andere, völlig überrascht zu sein von dem, was da zum Vorschein kommt. Dabei belegen die Briefe von Sipos, wie intim die Kenntnis von Pierers und anderer sein musste – entgegen den heutigen Beteuerungen.

Gerade von Pierer war der Adressat für die Erkenntnisse, die der gebürtige Ungar Sipos in Moskau gewonnen hatte. Er war 1973 aus dem Ostblock geflohen – „in der Hoffnung, nie wieder in Widerspruch zu meinem Gewissen handeln zu müssen“. Der promovierte Techniker arbeitete als Manager für US-Firmen wie Sperry Univac, Hewlett-Packard und Digital Equipment Süd- und Osteuropa. 1996 heuerte er bei Siemens an: „Niemals hätte ich mit unethischen Handlungen bei der Weltfirma gerechnet“, schrieb er Heinrich von Pierer am 4. Dezember 2003.

Zunehmend fühlte sich Sipos aber „wie in John Grishams Roman ‚Die Firma‘“. Was kam da alles zusammen: Eine beeindruckende Phantomorganisation, die sich hunderte von Millionen Mark an Hermes-Exportgarantien erschlich. Millionen von Mark an Bestechungsgeldern für hohe russische Beamte überwiesen über Drittländer, um die Spuren zu verwischen. Absprachen, um die russische Staatsanwaltschaft nicht auf Spuren in Deutschland und Russland zu führen, obwohl das Bundesjustizministerium die Untersuchung genehmigt hatte.

Fapsi, der aus dem KGB hervorgegangene und inzwischen wieder in den FSB eingegliederte russische Inlandsgeheimdienst, brauchte in den Neunzigerjahren Informations-und Telekommunikationssysteme sowie massenhaft Hard- und Software. Neben Siemens hatten sich die Konzerne Alcatel und Netrix um den Auftrag beworben. In russischen Medien wurde der Fapsi-Experte Generalleutnant Anatoli Kuranow zitiert: Alcatel sei von der Sicherheit her der beste Bewerber gewesen: „Meine Meinung war eindeutig: Niemals Siemens. Sicherheit über alles.“ Dieser Aussage fügte die Zeitung Moskowski Komsomolez hinzu: „Wie sollte der General wissen, dass das Wichtigste nicht Regierungsinteressen waren, sondern schmutziges Geld?“

Offen wurde in Moskau auf die Geldquelle hingewiesen: Die Consulting-Firma MKL mit Sitz in Liechtenstein, an der der Fapsi-Chef Alexander Starovojtov Anteile hielt. Passend dazu berichtete Moskowski Komsomolez von einem am 29. September 1994 in Dresden abgeschlossenen Vertrag, in dem sich Siemens verpflichtete, an die Starovojtov-Briefkastenfirma MKL „fünf Prozent vom stattgefundenen Umsatz“ zu überweisen. Getarnt sei das Ganze als „Consulting-Vertrag“ gewesen, schrieb die Zeitung und rechnete hoch: Etwa 25 Millionen Mark seien fünf Prozent vom gesamten Fapsi-Auftrag. „In keinem Land der Welt werden 25 Millionen Mark für Consulting bezahlt.“

Sipos nennt Namen

Das alles berichtete Sipos an Siemens nach München. Als Beispiel für solche Machenschaften fügte er noch die Kopie eines Vertrags über „Marketing Services“ vom 20. April 1997 bei, den Siemens in Moskau mit der irischen Offshore-Firma Tricast Investment Ltd., Dublin (Agreement N 1325/GP-97) bei. Danach hatte Siemens Tricast für Allerweltsbeobachtungen des russischen Multis Gazprom zu bezahlen. Auch das sei ein Schmiergeldvertrag gewesen, behauptete Sipos.

Bei einem Gespräch in München nannte Sipos Fakten und Namen. Über einen Siemens-Mann sei ihm aber gesagt worden: „Wenn Herr N. das tut, dann ist es sicherlich richtig so.“ Bald darauf wurde Sipos bedeutet, dass er bei Siemens keine Zukunft mehr habe. Im Jahr 1998 verließ er das Unternehmen. In Moskau war das dunkle Geschäft aufgeflogen, weil die Fapsi-Leute durch überzogenen Lebensstandard und merkwürdige Geldtransaktionen aufgefallen waren. Der Fapsi-Finanzchef Valeri Monasteretzki kam für 18 Monate in Untersuchungshaft, die Bundesregierung stimmte zu, dass ein Sonderermittler in Deutschland tätig werden konnte. Der aber sei, so Sipos, bei Siemens auf eine „Mauer des abgesprochenen Schweigens“ gestoßen und resigniert wieder abgereist. Einzige Konsequenz für Siemens: Einige Manager mieden fortan Moskau, „um nicht in der Moskwa zu landen“, wie einer sagte.

Auch die Münchner Staatsanwaltschaft tat nichts. Bestechung im Ausland war bis 1999 nicht strafbar. Nach russischem Recht lagen dagegen eindeutige Delikte vor, doch auch dort verflüchtigte sich schließlich das Interesse an Aufklärung. Immerhin stand einer der Geheimdienste in der Schusslinie. Ende 2003 konfrontierte Sipos den Vorstandsvorsitzenden von Pierer mit Zitaten aus dessen Buch „Zwischen Profit und Moral“: „Alles, was Sie schreiben, findet meine uneingeschränkte Zustimmung“, schrieb Sipos. Er meinte solche Pierer-Sätze: „Zuallererst geht es darum, dafür zu sorgen, dass Recht und Gesetz im jeweiligen Land geachtet werden.“ Und auch das schrieb von Pierer: „Ein Unternehmen sollte ganz einfach deshalb moralisch handeln, weil sich unmoralisches Handeln nicht lohnt.“ Zum Schluss fragte der Exmanager seinen Exboss: „Hat Siemens mein Leben nun im Namen des Profits oder im Namen der Moral zerstört?“

Der Hungerstreik

Immerhin ließ von Pierer den Brief durch Unternehmenssprecher Eberhard Posner beantworten, aber ein Fehlverhalten wurde nicht eingeräumt.

Irgendwann muss Peter Sipos die Verzweiflung gepackt haben. Ende Januar 2005 packte er seine Wintersachen ein, malte sich ein Schild und begann einen Hungerstreik vor der Siemens-Zentrale in München. Der frierende Mann vor dem Hauptquartier war dem Konzern wohl doch zu peinlich. Nach einem Tag wurde er zu Gesprächen gebeten, die sich dann noch Wochen hinzogen. Die Forderung von Sipos lautete: Eine Entschuldigung und Ersatz des Schadens, der ihm entstanden war, rund eine Million Euro an Verdienstausfall und Nebenleistungen. Siemens bot eine Monatsrente von 1.000 Euro, was Sipos als „beleidigend“ zurückwies.

Der frühere Manager stellte sich schon auf die Fortsetzung des Hungerstreiks ein, als Siemens im Sommer 2005 auf breiter Front nachgab. Am Horizont dräuten bereits die neuen, jetzt aktuellen Skandale, die Publizität, die Sipos gefunden hatte, war lästig. Peter Sipos, der solch ungeheuerliche Anschuldigungen erhoben hatte, der die Staatsanwaltschaft und die Öffentlichkeit gegen den Konzern mobilisierte, der ihn sechs Jahre gegen die Wand laufen ließ, erhielt plötzlich einen hoch dotierten Vertrag zur Marktbeobachtung in Osteuropa, der in etwa den von ihm geltend gemachten Schaden von knapp einer Million Euro abdeckt. Im Vertrag ist eine Schweigeklausel enthalten, die aber weiter nicht von Bedeutung ist. Was er wusste, hat der Mann rechtzeitig gesagt.

Vage bleibt Siemens auch heute noch auf die Frage, warum man damals vor den Berichten des Managers die Augen verschlossen hat. „Ob man diese Dinge schon früher hätte selbst entdecken und verhindern können, das bleibt eine hypothetische Frage“, erklärte Unternehmenssprecher Posner. Hausinterne Untersuchungen hätten die Vorwürfe von Sipos nicht bestätigt. Allen wäre wohler, „wenn es gelungen wäre, die nun wirklich eindeutigen Verhaltensregeln, die in den letzten Jahren ständig weiterentwickelt und mit zusätzlichen Kontrollmaßnahmen versehen wurden, lückenlos durchzusetzen. Es ist ein Drama, dass dies nicht gelungen ist.“