Die Noten sprechen lassen

Was ist ein Clavier? Beim Klavier dürfte diese Frage überflüssig sein, doch der Unterschied zwischen „K“ und „C“ ist in diesem Fall kein Streit um Buchstaben. Als Johann Sebastian Bach 1722 den ersten Teil seines „Wohltemperirten Claviers“ vollendete, verstand man darunter jede Art von Tasteninstrument, ganz gleich, ob Clavichord oder Cembalo – theoretisch konnte auch eine Orgel gemeint sein. Bloß Hammerklaviere, die Vorläufer der heutigen Klaviere, waren noch in der Entwicklungsphase und eher unüblich. Für Pianisten wie den Franzosen Pierre-Laurent Aimard ist es inzwischen völlig normal, das „Wohltemperierte Klavier“ auf einem modernen Konzertflügel einzuspielen. Das hat der für eigenwillige Interpretationen bekannte Aimard in diesem Frühjahr im Funkhaus in der Nalepastraße denn auch getan. Zuvor beschäftigte er sich ein Jahr lang im Wissenschaftskolleg zu Berlin mit dem Werk.

Bachs Zyklus lässt den Interpreten nicht nur einige Freiheit in der Wahl des Instruments, er verfolgt auch ein musikpolitisches Ziel: Mit den 24 Präludien und Fugen in allen zwölf Tonarten, abwechselnd in Dur und Moll geschrieben, wollte Bach demonstrieren, dass dank der verwendeten wohltemperierten Stimmung tatsächlich alle Tonarten gleichermaßen kompositionswürdig sind. Frühere Stimmungen waren zwar harmonisch genauer, dafür aber nicht für alle Tonarten gleichermaßen geeignet – manche Tonkombinationen klangen „schief“. Das egalitäre Anpassungsprinzip der wohltemperierten Stimmung vermindert diese Reibungen, auf Kosten der Reinheit bestimmter Intervalle. Mittlerweile sind die anderen Stimmungen aus Bachs Tagen fast nur noch Spezialisten bekannt.

Aimard spielt diese klingende Programmschrift für die zu Bachs Zeit neue Stimmung mit größter Nüchternheit. Sein Interesse gilt der Klarheit der Musik, insbesondere der Fugen mit ihren drei bis fünf Stimmen. Diese unabhängig geführten Linien lässt Aimard so leicht wie möglich fließen, der Ausdruck ordnet sich bei ihm ganz dem Kontrapunkt unter.

Erstaunlicherweise wirkt dieser Ansatz nicht trocken, sondern erhöht die Aufmerksamkeit für die Musik. Sie drängt sich nicht durch offen zur Schau gestellte Virtuosität auf, sondern scheint als reiner Notentext selbst zu sprechen. Eine elegante Art, die Arbeit, die hinter dem Ergebnis steckt, zu verbergen.

TIM CASPAR BOEHME

■ Johann Sebastian Bach: „The Well-Tempered Clavier“ (Deutsche Grammophon/Universal), Pierre-Laurent Aimard live: 1. 9., Dussmann; 4. 9., Philharmonie