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Archiv-Artikel

„Hauptsache, wir haben uns“

HAUSBESUCH Wohnen, wo es schön ist, nicht dort, wo es Arbeit gibt. Bei den Ehrlers im Erzgebirge

VON MICHAEL BARTSCH (TEXT) UND SVEN DÖRING (FOTOS)

Reifland, in der Gemeinde Pockau-Lengefeld an der Saidenbach-Talsperre. Ein 500-Einwohner-Dorf im Erzgebirge. Schmale, bergige Straßen führen zu Marcus, 38, Mechthild, 37, Mathilde, 15, und Martha, 13, Ehrler. Zum Haushalt zählen noch Katze Tiger, Hase Hans von Bommel und zwei weitere seiner Art, Meerschweinchen Oskar und zwei Laufenten.

Draußen: Ein zweistöckiges Haus an der Dorfstraße, 200 Jahre alt, die Familie wohnt seit zehn Jahren dort. Fachwerk im Obergeschoss, kleine Fenster. Ehemals eine Schmiede. Nebenan das Haus der Großeltern von Marcus – „der Opa war hier Pfarrer“. Wein rankt sich über eine Laube, „den haben wir aus Rumänien mitgebracht“. Die Wiese gerade gemäht. Ein kleiner Garten mit Kräutern und Salat am Haus, ein zweiter in einiger Entfernung. Dort wachsen Bohnen nicht an Stangen, sondern an Maispflanzen. 24 Gotland-Pelzschafe weiden auf zwei Hektar Wiese. Deren Wolle verkaufen die Ehrlers im Internet. „Die örtlichen Händler wollten unsere Wolle nicht.“

Drin: Schiefe Wände und Decken, wie in einem anthroposophischen Haus, in dem es keine rechten Winkel gibt. Freigelegte Balken zwischen dem unteren Wohnraum und der Küche, wo einst die Werkstatt war. „Hier halten wir uns am häufigsten auf“, Kaminöfen gegen die Erzgebirgskälte. Von der Vorratskammer führt eine Treppe hinunter zum Vorratskeller. Das Musikzimmer im Erdgeschoss: Flöte, Saxofone, zwei E-Gitarren und eine echte „Großmutter“ als Bass. Marcus hat früher in einer Bigband Bass gespielt. „Gelegentlich musizieren wir als Familie gemeinsam.“ Das große Wohnzimmer im Obergeschoss: Felle auf dem Dielenboden, „von einer selbst gegessenen Galloway-Kuh“, alte Massivholzmöbel. Marthas Zimmer hat eine richtige Tür, Mathildes ist „nicht begehbar“.

Ausbildung: Ursprünglich wollte Marcus Schäfer werden, lernte aber Zimmermann, machte dann eine Landwirtschaftslehre, versuchte es mit einer „Ich-AG“. Noch später: Abschlüsse als Techniker für Landbau und Umwelt-Landschaft. Mechthild schloss in Halle als Diplom-Agraringenieur ab. Wer macht was? Marcus ist Leiter der Pflanzenproduktion der Agrargenossenschaft „Bergland“ im rund 20 Kilometer entfernten Clausnitz („nicht ganz mein Traumberuf“). Mechthild ist Beraterin in Chemnitz bei der Sächsischen Aufbaubank, spezialisiert auf Hochwasserschäden. Martha besucht die achte Klasse der Oberschule Lengefeld, Mathilde die neunte.

Alltag: Der Wecker klingelt im Halbstundentakt: für Marcus um 5.30 Uhr, für Mechthild um 6 Uhr, für die Töchter um 6.30 Uhr. „Aber die Begegnung am Frühstückstisch ist wichtig.“ Sommers zur Erntezeit hat Marcus lange Arbeitstage, winters mehr Zeit. Die Mädchen kehren nach 14 Uhr aus der Schule zurück, die Mutter kommt ab 17 Uhr nach Hause. Tiere und Garten müssen versorgt werden. Die aktuellen Aufgaben stehen am schwarzen Brett. „Auf das gemeinsame Abendessen legen wir Wert.“

Und sonst: Gelegentlich Hausmusik. Vor allem aber reisen. Wegen der Landwirtschaft klappt das im Sommer fast nie gemeinsam, in den Herbstferien schon. „Wir sind begeisterte Skisportler, auf der Piste und in der Loipe.“

Stadt oder Land? Nach mehreren Stationen ist Marcus wieder ins Erzgebirge gezogen, „nach Hause“. Mechthild, in Halle geboren und aufgewachsen, kam mit: „Wir sind nicht dahin gezogen, wo es Arbeit gibt, sondern dahin, wo es schön ist.“ Autarkie ist den Ehrlers wichtig: „Wir wollen uns weitgehend mit Lebensmitteln selbst versorgen.“ Auch den Töchtern gefällt es auf dem Land: „Schlimmstenfalls kann man ja mal nach Chemnitz fahren.“

Die Liebe: Mechthild und Marcus trafen sich in Halle, beide hatten zu der Zeit andere Partner. Marcus’ Freundin lebte in einer großen Frauen-WG, dort traf er auch Mechthild, die einen Praktikumsplatz in der Landwirtschaft suchte. Marcus besorgt ihr einen in Holleben bei Halle. „Als Treckerfahrerin hat sie sich gut anstellt.“ Der Durchbruch beim Tanz zum Hallenser Laternenfest. Hochzeit im kleinen Kreis („wenig Geld“) während seines Zivildienstes. „Wenn Kinder kommen, sollen sie nur kommen.“ Mechthild war mit 22 erstmals Mutter. Marcus betreute die Kinder während Mechthilds Diplomzeit. „Ein großer Segen.“

Wovon träumen sie: Marcus ist noch nicht am Ziel. Die Genossenschaft, in der er arbeitet, eine ehemalige riesige LPG der DDR, „ist eigentlich der Feind der bäuerlichen Landwirtschaft“. Und von der träumt er. Einen Dreiseithof, einen eigenen Betrieb. Aber wo gäbe es dafür Land? „Alles längst aufgeteilt, da müsste schon eine zweite Bodenreform her.“ Mechthild würde dafür das Haus in Reifland aufgeben. „Hauptsache, wir haben uns.“ Der Mädchentraum: „Zwei Pferde“, was Martha nicht daran hindert, Fleischerin werden zu wollen. Nahziel für alle: die energetische Sanierung des Hauses.

Wann sind Sie glücklich? Mathilde schlendert gern mit ihrer Freundin durchs Dorf, Martha ist auf dem Rücken eines Pferdes mit der Welt im Reinen. Marcus: „Draußen auf der Bank sitzen und schauen, wie alles so wächst.“ So viel schuften wie jetzt ist keine Voraussetzung fürs Glück, Paul Lafargues „Recht auf Faulheit“ ist ihm sehr sympathisch.

Wie finden Sie Merkel? Martha hat noch keine Meinung, Mathilde: „Ich kenne keinen männlichen Kanzler im Vergleich.“ Mechthild erkennt sich in Merkels Wesen wieder: „Erst mal beobachten, abwarten und später entscheiden.“

Nächstes Mal treffen wir Familie Hofrichter in Burghardsmühle, die ein ganzes Dorf wiederbelebt hat. Sie möchten auch einmal besucht werden? Schreiben Sie eine Mail an hausbesuch@taz.de