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Archiv-Artikel

Nur wenige Staaten sind für die Raketenabwehr

Washington hatte nie wirklich die Absicht, das geplante Raketenabwehrsystem zu einem gemeinsamen Nato-Projekt zu machen

GENF taz ■ Kaum gelingen wird der Versuch deutscher RegierungspolitikerInnen, die innen- und außenpolitischen Kontroversen um die US-Raketenabwehrpläne durch Einbindung dieser Pläne in die Nato beizulegen. Allein deshalb, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel dabei von einer falschen Ausgangslage ausgeht. Vergangenen Donnerstag, kurz vor Antritt ihrer Polenreise, hatte sie erklärt: „Es ist bereits 2002 auf dem Nato-Rat in Prag beschlossen worden, dass die Nato sich ein solches Verteidigungssystem anschaffen will.“

Das aber ist falsch. Auf dem Prager Gipfel vom November 2002 wurde lediglich die Ausarbeitung einer Machbarkeitsstudie für ein Raketenabwehrsystem beschlossen – nachdem die USA die Verbündeten im Vorfeld des Gipfels über ihr nationales Raketenabwehr unterrichtet hatten – inklusive der geplanten Stationierungsorte in Polen und Tschechien. Beteiligt an dem Prager Beschluss waren der damalige Kanzler Schröder (SPD) und die Minister Scharping (SPD) und Fischer (Grüne). Die Machbarkeitsstudie liegt seit Herbst 2006 vor. Auf dem Nato-Gipfel in Riga Ende November wurde die Studie von den Verbündeten jedoch lediglich „zur Kenntnis genommen“. Bei den bündnisinternen Diskussionen im Vorfeld des Gipfels hatte sich von den 27 Mitgliedsstaaten fast eine Zweidrittelmehrheit gegen das Raketenabwehrprojekt ausgesprochen – darunter auch eine Mehrheit der neueren Nato-Staaten aus Ost- und Südosteuropa.

Insofern trifft die inzwischen vorgetragene Einschätzung der Bush-Administration zu, dass weitere Beratungen im Nato-Bündnis keinen Konsensbeschluss für ein gemeinsames Raketenabwehrprojekt ergeben werden – zumindest nicht in dem engen Zeitrahmen, den sich die Bush-Administration für das Projekt gesetzt hat: bilaterale Abkommen mit Prag und Warschau bis Ende 2007, Stationierung des Radars in Tschechien und der zehn Abwehrraketen in Polen zwischen 2008 und 2012. Doch dies ist nur ein taktisches Argument. Tatsächlich bestand in Washington nie die ernsthafte Absicht, das Raketenabwehrsystem, über unverbindliche Unterrichtungen der Verbündeten hinaus, zu einem gemeinsamen Nato-Projekt zu machen. Ein Projekt, bei dem die Verbündeten tatsächlich gleichberechtigten Zugang zu der Technologie des Systems und den durch Radar gewonnenen Aufklärungsdaten hätten – ebenso wie Mitentscheidungsrechte über den Abschuss von Abwehrraketen.

Selbst wenn die US-Regierung diese Haltung noch revidierte, wofür es jedoch keine Anzeichen gibt, würde dies nichts ändern an der kritischen Wahrnehmung in Moskau. Und es würde auch die Gefahr von Aufrüstungsgegenmaßnahmen Russlands nicht schmälern. Zwar ist das US-amerikanische Rüstungsprojekt – zumindest in seiner bislang geplanten Dimension von zehn Abfangraketen – militärisch noch keine signifikante Bedrohung für Russland und sein strategisches Raketenarsenal. Allerdings bedeutete die Stationierung des Radars und der Abfangraketen in Tschechien und Polen einen unilateralen Bruch der Zusage an Moskau, auf den Territorien der neuen Nato-Mitgliedsstaaten keine Waffensysteme mit strategischen Fähigkeiten zu stationieren. Zudem könnten die USA mit dem in Tschechien stationierten Radar auch Spionageaufklärung von russischen Waffensystemen und militärischer Infrastruktur betreiben. Diese Spionagemöglichkeiten würden noch erweitert, wenn die USA – wie letzte Woche angekündigt – „im Kaukasus“ ein weiteres, mobiles Radarsystem stationierten.

Wenn die Berliner Koalition und die anderen Nato-Regierungen einen teuren und gefährlichen Rüstungswettlauf in Europa/Russland vermeiden wollen, müssen sie endlich die zentralen Frage diskutieren: Gibt es tatsächlich die von Washington bereits seit Mitte der 90er-Jahre und verstärkt seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 behauptete Bedrohung der USA und Europas durch strategische (Atom-)Raketen Irans, Nordkoreas und anderer „Schurkenstaaten“, gegen die sich das US-Raketenabwehrsystem nach offizieller Version richten soll? Wenn es tatsächlich entsprechende Bedrohungabsichten gibt, wann würden diese „Schurkenstaaten“ über die entsprechenden militärtechnischen Fähigkeiten verfügen? Und vor allem: Welche politischen Möglichkeiten gäbe es, diese (etwaigen) Bedrohungsgefahren durch Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen mit diesen „Schurkenstaaten“ einzudämmen und auszuschließen? ANDREAS ZUMACH