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Archiv-Artikel

„Kampftrinken ist ein richtiger Trend“

ETIENNE COCCO, 15, ist gerade taz-Schülerpraktikant. Er wohnt im rheinischen Moers. RAPHAEL PIOTROWSKI, ebenfalls 15, lebt im Ruhrgebiet, genauer: in Dortmund.

INTERVIEW: ULRICH SCHULTE UND CLAUDIUS PRÖSSER

taz: Mal ehrlich, wann habt ihr zuletzt Alkohol getrunken?

Etienne Cocco: An Karneval.

Raphael Piotrowski: Ich hab vor ein paar Wochen auf der Eisbahn einen Schluck Bier von einem Freund genommen, mehr nicht.

Und wart ihr schon mal betrunken?

Raphael: Nein. Ich persönlich trinke eigentlich gar keinen Alkohol. Auch weil ich bei meinen Freunden schon richtig derbe Abstürze erlebt habe. Ich war öfter dabei, wenn richtig gesoffen wurde, und eigentlich bin ich der Einzige, der sich immer raushält.

Etienne: Ich war schon mal richtig betrunken, und seitdem trinke ich kaum noch Alkohol. Aber bei meinen Freunden war es eine Zeit lang gang und gäbe, jedes Wochenende zu trinken. Und in den Ferien praktisch jeden Tag.

Wie muss man sich das vorstellen?

Etienne: Meine Freunde treffen sich immer freitags um vier. Da kommen so an die 15 Leute zusammen. Das erste Bier wird am Kiosk geholt, das hat Tradition. Anschließend besorgt man im Supermarkt die ersten Flaschen Wodka oder Sangria.

Wie alt sind denn die Leute in dieser Gruppe?

Etienne: Zwischen 14 und 17. Einer ist 18, der zeigt den Ausweis, wenn mal ein Verkäufer fragt. Die meisten interessiert dann gar nicht, dass da zehn Leute stehen, und einer für alle einkauft.

Raphael: Wir sind meistens zu fünft unterwegs. Wir chillen an der Schule, so an den Tischtennisplatten, da hören wir ein bisschen Musik. Einer meiner Freunde ist 16, der muss immer was zum Trinken holen. Aber jetzt hat in der Gegend ein neuer Kiosk aufgemacht, da bekommen sogar 13- oder 14-Jährige Hochprozentiges. Im Winter haben die sich Berentzen Apfelkorn geholt, das Zeug hat 20 Prozent. Da haben sie immer zusammengeschmissen, ein, zwei Flaschen geholt und sich reingepfiffen.

Halten sich die Verkäufer an keine Altersbestimmungen?

Etienne: Unterschiedlich. Aber eigentlich interessiert das gar nicht, weil die meisten wissen, wie sie ihre Ausweise fälschen können. Und wie gesagt: Wenn einer alt genug ist, kauft der eben für alle ein.

Raphael: Ich war mal am Kiosk mit einem Freund, der ist 16. Berentzen kriegt man eigentlich erst ab 18. Die Jüngeren standen auch noch hinter ihm, und einer sagte: ,Nimm mal Sauren Apfel.‘ Und dann hat der Kioskbesitzer meinem Freund drei Flaschen verkauft und ihm gesagt: „Gib den anderen auch was ab, damit du nicht völlig besoffen bist.“

Gilt man als uncool, wenn man nicht mittrinkt?

Etienne: Es kommen schon diese Fragen: Warum trinkst du denn nichts, was ist denn mit dir los? Ich sage dann immer, dass ich nicht so viel vertrage, weil ich Italiener bin (lacht).

Raphael: Dass ich nicht mittrinke, respektieren die anderen eigentlich schon. Es sind ja meine besten Freunde.

Ihr habt von „Abstürzen“ gesprochen. Wie sehen die denn konkret aus?

Raphael: Einmal haben sich zwei Freunde von mir, einer 16 und einer 14, Wodka aus dem Keller der Eltern geholt. Den haben sie mit Orangensaft gemischt. Erst ganz viel Saft und ein bisschen Wodka und irgendwann drei Viertel Wodka auf ein Viertel Saft. Der 16-Jährige hat Playstation gespielt und sich immer nachschenken lassen. Irgendwann lag er auf dem Boden und hat nur noch gezuckt. Sie haben ihm dann im Krankenhaus den Magen ausgepumpt. Er hatte 3,2 Promille, glaube ich.

Etienne: Ich habe mal mit Freunden in der Gartenlaube Playstation gespielt. Da gab es Whisky, 54 Prozent. Ich habe einmal genippt und gesagt: „So was trinke ich auf keinen Fall.“ Aber ein Russe war dabei, der wahnsinnig viel verträgt. Der wollte mal erleben, wie es ist, richtig betrunken zu sein. Er hat sich die halbe Flasche reingezogen und war auch gut angeheitert. Ein anderer Freund dachte dann, er müsse seinen Kumpels was beweisen und hat die andere Hälfte getrunken. Zwanzig Minuten war es noch okay, dann wurde er immer betrunkener. Das ging Schlag auf Schlag. Irgendwann musste er kotzen. Nach einer Dreiviertelstunde hatte er Bauchkrämpfe und dachte, sein Magen explodiert. Er schrie vor Schmerzen.

Lernen eure Kumpels aus solchen Erfahrungen?

Raphael: Mein Freund hat sicher ein halbes Jahr lang die Finger vom Hochprozentigen gelassen. Aber irgendwann ist das wieder in die Ferne gerückt und er dachte: Wahrscheinlich vertrage ich inzwischen mehr. Dann ging es halt wieder los. Die erleben sich ja auch nicht, wenn sie besoffen sind. Die wissen gar nicht, wie herbe die dann drauf sind. Nur ich kriege das immer mit.

Ist Saufen ein Männerding?

Raphael: Ja, bei uns sind das schon fast immer die Jungs. Dass ein Mädchen richtig betrunken war, habe ich nur einmal erlebt.

Kann es sein, dass manche Leute sich mit solchen Abstürzen regelrecht brüsten?

Etienne: Ja, klar. Und es gibt Leute, die nehmen es mit dem Handy auf, wie ihre Kumpels einen Absturz schieben.

Was glaubt ihr – trinken Jugendliche immer mehr?

Etienne: Die Schmerzgrenze ist klar gesunken. Es laufen 14-Jährige mit der Wodkaflasche rum, und die Polizei kriegt‘s nicht mit. Und ich kenne Leute, die betreiben Kampftrinken. An Silvester haben sie Listen gemacht, wer am meisten exen kann. Und das heißt in diesem Fall 0,5 Liter. Auch harte Sachen. Kampftrinken ist ein richtiger Trend, gerade bei den Jüngeren zwischen zwölf und 14. Das machen die auch bei den Flatrate-Partys.

Wart ihr schon mal auf so einer Party?

Etienne: Ich ja. Gerade an Karneval gab es viele. Das ist schon krass, da sind dann nur noch betrunkene Leute unterwegs.

Politiker fordern jetzt, solche Flatrate-Partys zu verbieten. Wie würdet ihr das finden?

Etienne: Ich denke, solche Partys müssten wirklich verboten werden. Aber man sollte nicht allgemein die Altersgrenze raufsetzen. Ich finde schon okay, dass man mit 16 mal ein Bier trinken kann. Sonst wollen die Jugendlichen beweisen, dass sie sich das Zeug trotzdem besorgen können. Dann könnte man doch sagen: Partys verbieten bringt auch nichts, die Kids kommen eh an den Alkohol ran.

Etienne: Aber nicht an solche Mengen. Wer kann sich in dem Alter so viel Schnaps leisten?

Raphael: Ich fände ein Verbot von diesen Partys auch nicht schlecht. Und ich denke, an Kiosken und in Supermärkten müsste besser kontrolliert werden.

In Berlin liegt ein Jugendlicher im Koma, seit er angeblich 52 Tequila getrunken hat. Überrascht euch so etwas?

Raphael: Ich stehe ja auf Hiphop, und da gibt es Songs, in denen es heißt: In Berlin kriegst du alles.

Etienne: Am ersten Abend, an dem ich hier in Berlin rausgegangen bin, habe ich ein paar Jungs kennengelernt. Die haben mir erzählt, dass man innerhalb von einer Stunde alles kriegt, was man will. Alkohol, Drogen, Anabolika, alles. In einer Stunde. Das hat mein Bild voll bestätigt.