: Wer später liest, bleibt länger dumm
Unsere Harry Potters sind Bilderbücher, weil sie das wirksamste Rezept gegen Pisa-Schocks sind. Sie entzünden die Fantasie und entwickeln Sprache
VON CHRISTIAN FÜLLER UND SARAH WILDEISEN
Auch so kann der Alltag des Guckens und Lesens aussehen. Jemand schlägt vor, ein neues Bilderbuch anzuschaffen. Weil es so schön sei und die Kleinen zum Lesen animiere. „Ja, wirklich wunderschön“, sagen die Gefragten, „aber halt auch teuer. Wir können jetzt nicht schon wieder 15 Euro für ein Buch ausgeben.“ So hört man es in Kindergärten genau wie bei vielen Eltern.
Das ist vielleicht einer der größten Irrtümer der Postpisa-Zeit. Die 15-jährigen Deutschen können nicht richtig lesen. In Hauptschulen gehören bis zu 50 Prozent zu den lust- und kompetenzlosen LeserInnen. Deswegen fiebert die Nation über Nachhilfen aller Art nach – für Teenies. Dabei gilt: Spät reparieren ist mühsam bis unmöglich. Früh starten heißt die Methode der Wahl bei der Faszination fürs Schmökern und Lesen.
Hierzulande ticken die Uhren anders. Englische Leselern-Projekte wie Book Start und starting strong laufen erst an. Die exzellenten französischen und skandinavischen Vorbilder des Lernens und Forschens mit Dreijährigen gelten geradezu als verpönt. „Bilderbücher, das brauchen wir im Kindergarten nicht“, heißt das Motto in den Worten einer Mutter. „Die Kleinen haben selber genug Fantasie.“ Viele Eltern und Erzieher denken so.
Der Gegenbeweis sieht so aus. „Papa, was steht da?“, will der kleine Felix wissen, nachdem er den dicken Mann mit dem weiten Mantel eine Weile betrachtet hat. Und weil die Frage nicht sofort beantwortet wird, kommt sogleich ein Befehl hintendrein. „Papa, lies vor!“
„Der geheimnisvolle Mantel“ von Jeannette Jenning ist nur ein Beispiel für die Faszination, die von Bilderbüchern ausgehen kann. Ein gelungenes. Jeden Morgen verlässt Herr Hummel sein Haus in einem Mantel, der sich fantastisch wölbt und spannt. Abends ist er ebenso dick. Beim Schweifen über die querformatigen Panoramen stößt der Betrachter auf Zacken, Hufen und Froschaugen. Ahnungen entstehen, Schatten und Spiegelungen regen die Fantasie an auf der Suche nach Antworten.
Drei Kinder sind es, die in Jennings Mantel das Rätsel ergründen wollen. Hinweise gibt es zuhauf: Mal tropft es aus dem Mantel, mal grunzt und piept es. Während die Bilder bereits erahnen lassen, was sich unter dem Stoff verbergen könnte, bleiben die Detektive im Buch ratlos. Aber die Kinder, die Betrachter von außen, geben ihren Spielkameraden schon ungeduldig Ratschläge, was Herr Hummel unter dem Mantel verbergen könnte.
Lesenlernen ist mühsam und erfordert Durchhaltevermögen. Das ist eine allzu deutsche Weisheit. Denn Bilderbücher zeigen: Kinder, die schon früh die Freude am Buch erleben, nehmen den Weg zum Selberlesen leichter, oft mühelos. Das Vorlesen von Bilderbüchern spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie verschmelzen Bild und Text. Sie kommen so dem bildhaften Denken von Kleinkindern entgegen. Gute Bilderbücher verbildlichen die Handlung des Textes nicht, sondern erschaffen durch besondere Bildsprache, künstlerische Gestaltung und kleine Details eine eigene Welt, die zum Eintauchen einlädt.
Oder anders gesagt, an die oben zitierte Mutter gerichtet: Bilderbücher ersticken oder überdecken die Fantasie kleiner Kinder nicht, sie entzünden sie. Das Betrachten der Bilder lässt Fragen entstehen, die weit über das Buch hinausgehen. Jeder, der mit Kindern Bücher betrachtet, weiß: Je mehr man ihnen vorliest, desto größer wird der Appetit danach. „Wissen ist der einzige Rohstoff“, nannte Max Planck das, „der sich bei Gebrauch vermehrt.“ Auf Pisa und die Kleinen gewendet, bedeutet es: Wer nicht früh zu lesen beginnt, bleibt umso länger dumm.
Kinder, die erkennen, dass zwischen zwei Buchdeckeln unentdeckte Welten schlummern, wissen, dass es sich lohnt, lesen zu lernen. Kinder teilen noch während des Vorlesens, oft Tage später Entdeckungen wie Befremdungen mit. Sie fahnden geradezu nach neuen Begriffen, üben Ausdrucksweisen und spinnen die gelesenen Geschichten weiter. Nicht nur schlaue Studien, jede Grundschullehrerin weiß: Kinder, die früh und häufig in den Genuss des Vorlesens kommen, weisen einen größeren und differenzierteren Sprachschatz auf als Lesemuffel.
In den Jahren seit Pisa haben wir gelernt: Das Angebot an Les- wie Unlesbarem wird immer gigantischer. Es kommt manches Glanzstück auf den Markt, aber es ist auch verdammt viel Postpisaschrott dabei. Kinder und Eltern, Erzieher und Lehrer verlangen daher nach Lesezeichen. Sie wollen sich im großen Rauschen von Potter & Co einen Zipfel Übersicht verschaffen. Daher wollen wir auf der Bildungsseite künftig den Versuch unternehmen, den einen oder anderen Fingerzeig zu geben. Jede Woche.
Wir besprechen hier alles: Bilderbücher, Bücher für Leseanfänger und Fortgeschrittene und Sachbücher. Und bewerten. Genauer: Sarah Wildeisen liest und guckt für uns vor. Wichtig sind uns die Pisa- und Potterwertigkeit, also die zugegeben vereinfachten Fragen danach: Was lernen wir? Verführt das Buch zum Lesen? Greifbar gemacht werden die Rezensionen mit kleinen Pisatürmchen, den Brillen Harry Potters und unseren Wildeisen (siehe unten). Jede der Wildeisen’schen Rezensionen gibt den Gehalt des Buches wieder und ordnet ein. Nach dem Alter der Leser zunächst. Schließlich wird eine Rolle spielen, ob und wie das Buch zwischen den Geschlechtern vermittelt, heiße Eisen anpackt, Außenseiter integriert, kurz: auf die Herausforderungen des Lebens in unserer Gesellschaft reagiert. Wir fragen nach der Qualität von Text und Illustrationen. In unserem Beispiel liegt sie darin, wie Jeannette Jennings ihre Illustrationen kontrapunktisch zur Erzählung setzt.
Für „Der geheimnisvolle Mantel“ heißt das: Volle Punktzahl in allen drei Kategorien!
Jeannette Jenning: „Der geheimnisvolle Mantel“. Atlantis, Stolberg 2007, 13,90 €