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Archiv-Artikel

Die prämierte preiswerte Vorleserin

Lydia Bruhns, 58, bekam gestern Abend einen Integrationspreis von Bundespräsident Köhler. Sie erhielt ihn für ihr bürgerliches Engagement in einer Stiftung, die sich um Zuwanderer kümmert FOTO: ARCHIV

Frauen wie Lydia Bruhns sind ein Traum für jeden Staatspräsidenten. Auch für Horst Köhler. In Zeiten des Sparzwangs wird ihre Arbeit umso wertvoller. Gemeinsam mit 220 weiteren Menschen engagiert sich Lydia Bruhns bei der „Berliner Bürgerstiftung“.

Seit gut drei Jahren ist die 58-Jährige Lesepatin, das heißt, sie versucht rund vier Stunden wöchentlich, in einer Kreuzberger Grundschule die Kinder zum Lesen zu animieren. Der Migrantenanteil beträgt knapp 80 Prozent, einige der Kinder kommen aus Kriegs- und Krisengebieten und sind traumatisiert. Die Integrationsmöglichkeit ist für Bruhns eng an die Sprachkompetenz gekoppelt.

Deshalb liest sie den Schülern vor, die Kinder können in der Ferienzeit Bücher ausleihen. Oft ist der Wortschatz der Schüler sehr gering, „das gemeinsame Lesen macht da richtig Sinn“. Da auch die Eltern oft kaum oder nur wenig Deutsch sprechen, können ihre Kinder zum gemeinsamen Lesen im Elternhaus für vierzehn Tage einen Bücherkoffer mit zweisprachigen Texten ausleihen. Bruhns zog 2004 aus dem ostfriesischen Leer nach Berlin. „Lesepatin“ wurde sie, nachdem sie eine Anzeige gelesen hatte, in der neue Ehrenämtler gesucht wurden. Die Lesepatenschaft ist zwar eine oft mühsame „Kleinarbeit“, „Freude und Stolz“ zieht sie dafür aus dem sichtbaren Fortschritt „ihrer“ Schüler. Ob ihre Arbeit ein scheinbar günstiger Weg aus der hausgemachten Bildungsmisere ist, spielt für Bruhns dabei keine Rolle. Sie leistet einen Teil zur Verbesserung der desolaten Situation an Schulen. Anstatt neue Lehrer einzustellen und den Bildungsetat zu erhöhen, setzt die Politik gern auf billigere Kräfte. Deren Arbeit ist zwar nicht umsonst, kostet aber auch nichts.

So ist die Kreuzberger Grundschule, an der Bruhns mitarbeitet, beinahe schon ein Musterbeispiel. Zwei Lesepaten pro Klasse, insgesamt 30 ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen gerade mal 38 Lehrer. Lydia Bruhns war in Ostfriesland 25 Jahre lang Geschäftsführerin einer Bäckerei.

In Kreuzberg leitet sie seit kurzem zusätzlich die Schulbibliothek; mit ihren mittlerweile zwanzig Stunden wöchentlich leistet sie so viel wie eine Teilzeitkraft. Im Gegenzug lädt die Berliner Bürgerstiftung ihre Mitglieder, unter anderem Lesepaten und Hausaufgabenbetreuer, auch schon mal zu gemeinsamen Opernbesuchen ein oder organisiert Fortbildungen an der FU Berlin.

Und was sagt der Bundespräsident dazu? Gestern Abend verlieh er den mit 15.000 Euro dotierten „Förderpreis Aktive Bürgerschaft 2007“ an die Berliner Bürgerstiftung, der Bruhns angehört. Billiger sind 220 Kinderbetreuer zurzeit nicht zu haben. TIEMO RINK