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Archiv-Artikel

HEMD, HOSE, HANDKE

VON FRANK SCHÄFER

Es ist mal wieder ein Paradigmenwechsel anzuzeigen, ein epochaler Einschnitt, der Anbruch einer neuen Zeit. Man steckt das Hemd nicht mehr in die Hose. Wer das noch tut, ist ein modischer Dinosaurier, ein arschverkniffener CSUler oder schwäbischer Grünen-Spießer.

Als ich vor einiger Zeit sogar schon in einem Buch lesen musste, wie der Erzähler sich darüber lustig machte, dass es immer noch Menschen in Mitteleuropa gebe, die diesem absolut vorgestrigen Aberglauben anhingen, das Hemd gehöre in die Hose, ja, man müsse womöglich sogar einen Gürtel tragen, kam ich mir wieder so vor wie mit dreizehn. Da belauschte ich auf dem Schulweg das Gespräch zweier größerer, vierzehnjähriger Jungen, die von ihrer Christiane-F.-Lektüre schwärmten und immer wieder vom „Anschaffen“ sprachen. Bis ich dann irgendwann nicht mehr an mich halten konnte und geradezu ärgerlich hinausposaunte, dass sie jetzt aber auch langsam mal mit der Sprache rausrücken müssten, was sich die dumme Kuh denn da ständig anschaffe … Man fühlt sich einfach gedemütigt, wenn man es wieder mal als allerletzter erfährt.

So ähnlich wird sich wohl auch der Brüskierte in der Anekdote gefühlt haben, die mir ein befreundeter Göttinger Germanist neulich erzählte. Ein leidlich bekannter Literaturhistoriker (Forschungsschwerpunkt 18. Jahrhundert) beging seine Silberhochzeit in standesgemäßem Rahmen. Das heißt, er lud allerlei Berühmtheiten ein, um sich in ihrem Glamour zu sonnen. Dem Dichter Peter Handke war offenbar so schnell keine Ausrede eingefallen, und so saß er als Ehrengast am Tisch des Silberhochzeitspaars. Das Gespräch kam auf die Kinder. Der Jubilar schwärmte von seinem Sohn, der eine steile Karriere hinlege. Und die Tochter erst, soviel Kompetenz und Durchsetzungsvermögen in so jungen Jahren habe man ja selten. Handke, ein distinguierter Mensch, nickte erst höflich und gespielt interessiert, aber als sein Gegenüber nicht aufhören wollte zu schwärmen, unterbrach er jäh die väterliche Eloge. „Und?“, wollte Handke wissen und fragte so laut, dass auch die Gäste an den umliegenden Tischen spitze Ohren bekamen. „Haben Ihre Kinder denn schon gewisse Erfahrungen machen können?“

Der Professor, solcherart Unterbrechungen seines Redeflusses nicht gewohnt, zögerte überrascht, sah seine Frau an, aber die konnte ihm auch nicht helfen, hilflos hob sie die Schultern. Und an den umliegenden Tischen begann es nun leise zu rumoren. Es blieb dem Pechvogel nichts anderes übrig, als nachzufragen. „Was meinen Sie mit ‚gewissen Erfahrungen‘, Herr Handke?“

Der aber schien nur darauf gewartet zu haben, schlug die Faust auf den Tisch und blickte mit wilden Augen in die Runde. „Ob sie schon gefickt haben, will ich wissen!“, rief er.

„Ein ganz unmöglicher Mensch, dieser Handke“, japste mit Freudentränen in den Augen mein Bekannter aus Göttingen, das habe ihm später am Abend der wütende Silberbräutigam zugeraunt. „Der trägt bestimmt auch noch sein Hemd in der Hose“, nickte ich weltgewandt.