: Zurück zur Triestinità
KULTURGESCHICHTE Zwischen Österreich, den Staaten des ehemaligen Jugoslawien und Italien hin- und hergerissen – Triest an der Adria muss sich laufend neu erfinden. Die Grenzstadt tut sich nicht immer leicht damit. Unser Autor ist auf Spurensuche in der Stadt
VON UWE RADA
Diese Stadt hat den Blues. Wenn man auf der aufgeständerten Stadtautobahn mit ihren verbeulten Leitplanken von Osten nach Triest fährt, lodert hinter einem der zahlreichen Tunnel ein Feuer auf. Es ist die Abfackelflamme der Triestiner Raffinerie. Hier wird verbrannt, was man nicht mehr braucht. Für den Reisenden wirkt die züngelnde Dauerflamme in dieser Bucht der Adria, die ganz der Industrie gehört, wie ein Lebenszeichen. Hier bin ich, ich existiere noch, wenn auch auf kleiner Flamme.
Fährt man mit dem Zug nach Triest, ist an der Piazza Libertà Endstation. Hier befindet sich der Bahnhof Trieste Centrale. Die Bahnhofshalle aus österreichischer Zeit ist nicht nur ein Sackbahnhof, Trieste Centrale ist auch ein Endbahnhof. Weiter in Richtung Osten gibt es keine Züge mehr. Seit dem Bau der Südbahn durch die Habsburger 1857 hat sich hier nichts verändert.
Traurig ist es, wenn der verkehrsumtoste Platz, auf den ich vom Balkon des Albergo della Posta schaue, nach einem wenn auch gescheiterten Attentäter benannt ist. Wilhelm Oberdank, der am 1. Februar 1858 in Triest als Sohn einer Slowenin und eines Österreichers geboren wurde, wurde zu einem glühenden Kämpfer für die italienische Sache und nannte sich bald Guglielmo Oberdan. Als sich Triest 1882 für die Feiern zum 500. Jahrestag der österreichischen Herrschaft rüstete, sah der Irredentist seine Stunde gekommen. Mit zwei Bomben wollte er den Kaiser höchstselbst in die Luft jagen. Doch Franz Joseph blieb unverletzt. Zwei Polizisten hatten von den Attentatsplänen Wind bekommen. Oberdan wurde verhaftet und später hingerichtet. Im italienischen Triest, diesem traurigen Nationalistennest, ist er ein Volksheld, dem man einen Platz widmet, die Piazza Guglielmo Oberdan.
Als Triest noch fröhlich war
Von der Piazza Goldoni, die mit der Piazza Oberdan über die Via Carducci verbunden ist, vielleicht die einzige Straße in Triest, die sich Boulevard nennen darf, führen die Treppen steil hinauf zum Hügel von San Giusto. Je höher man steigt, desto weiter geht der Blick. Man sieht von hier oben, wie sehr die Österreicher die Stadt geprägt haben: Unter mir die rechtwinklige Anlage des Borgo Teresiano und der alte Hafen. Es ist das Triest des 18. Jahrhunderts. Nach Westen hin geht der Blick auf die Piazza dell’Unità d’Italia, der größte, zum Meer hin geöffnete Platz der Adria, der seit jeher die Phantasien beflügelt hat. Hier, im Triest des 19. Jahrhunderts, sind noch immer die Insignien habsburgischer Herrschaft versammelt: Der prächtige Sitz des Triestiner Lloyd, der Sitz des Gouverneurs und das verspielt kitschige Rathaus an der Stirnseite des Platzes.
Im Jahr 1382 war Triest zu Habsburg gekommen, doch seinen Aufschwung erlebte es erst 1717, als es zum Freihafen erklärt wurde. Sie hat also nur zweihundert Jahre gedauert, die glückliche Zeit Triests. Und auch hier oben auf dem Hügel von San Giusto weht der Blues. Das Lapidarium mit den Gedenksteinen an die Gefallenen der Weltkriege, an die Kämpfer für die italienische Sache sowie die Helden der Italianità aus Istrien und Dalmatien macht den Hügel eher zum Ort der Toten als der Lebenden. Und dann ist da die Gedenktafel aus dem Jahre 1921, die am Ende der Via della Cattedrale prangt, mit den Versen des Nobelpreisträgers Giosuè Carducci, die Fritz Sternberg ins Deutsche übertragen hat:
„O eilt zum schönen Meer Triests und zu den Höh’n / Im Angesicht des Fremdlings, der bewaffnet auf / Unserem Boden weilt, singt: Italien! Italien!“
Ach du herrliches Meer von Triest, das du nun zu Italien gehörtest – was für eine Lüge. Als dir diese Tafel beschert wurde, war dein Niedergang längst beschlossen.
Triest wird italienisch
Vielleicht ging das Vorkriegs-Triest auch erst am 13. Juli 1920 endgültig unter. Nicht weit von der Piazza, die nach dem Beinahe-Attentäter Guglielmo Oberdan benannt ist, befindet sich in der Via Filzi Fabio ein Gebäude, das zur Triestiner Universität gehört. Eine Gedenktafel klärt allerdings darüber auf, dass das hier kein normales Gebäude ist, sondern der Ort, an dem der Faschismus in Triest seine Vernichtungsspur begonnen hatte. Bis zum 13. Juli 1920 befand sich in der Via Filzi Fabio der Narodni Dom, das slowenische Volkshaus, in dem slowenische Kulturvereine, Organisationen und auch das slowenische Archiv der Stadt ihren Sitz hatten. Am 13. Juli 1920 haben es Mussolinis Schwarzhemden niedergebrannt. Am helllichten Tage. Unter den Augen der Passanten und der Polizei. Nun, da die Italiener erlöst waren und endlich an Italien angeschlossen, sollte kein Platz mehr sein für andere, auch wenn sie seit Generationen in der Stadt lebten. „Italien, Italien.“
Die andere Minderheit, die der österreichischen Beamten, Lehrer und Militärangehörigen, der deutschen und jüdischen Kaufleute, hatten die Stadt bereits zuvor verlassen. Es war ein Exodus, von dem sich Triest nie wieder erholen sollte. Und nicht nur kulturell, auch wirtschaftlich war Triest nach dem Anschluss an Italien am Ende. Weil das österreichische Hinterland mit Görz und der Krain nun fehlte, Triest also vom Donauraum und Mitteleuropa abgeschnitten war, blieb nur noch der Korridor nach Italien. Doch Rom war weit weg, und so wurde aus der Hafenmetropole der Habsburger eine italienische Provinzstadt, eine Stadt am Rande Italiens zur slawischen Welt. Triest wurde, lange vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Eisernen Vorhang, zur Frontstadt.
Wie immer, wenn die Bedeutung verschwindet, sucht man im Bedeutungslosen nach Halt. Das bekamen vor allem die Triestiner Slowenen zu spüren. Seit 1923 wurde Slowenisch nicht mehr in den Schulen unterrichtet. 1925 wurde die Jadranska Banka geschlossen. Seit 1927 war es verboten, in der Öffentlichkeit Slowenisch zu sprechen, ein Jahr später wurden die slowenischen Zeitungen verboten. So wurde eine Stadt, Schritt für Schritt, zu Grabe getragen.
Poris Pahor ist unweit der Piazza Oberdan geboren, die 1913, im Jahr seiner Geburt, noch Piazza Caserma hieß. Als die italienischen Nationalisten den Brandanschlag auf den Narodni Dom verübten, war der kleine slowenische Junge sechs Jahre alt. Er musste nicht nur die Untätigkeit der Polizei mit ansehen, sondern auch, wie fanatisierte Bürger die Löscharbeiten behinderten. Kurz darauf wurde er eingeschult und musste plötzlich eine andere Sprache sprechen, „gleichsam mit einem falschen Gebiss im Mund“, wie er es später einmal formulierte. „Schulen werden geschlossen, Namen bis in die Inschriften auf den Grabsteinen hinein italianisiert, Mädchen an ihren Zöpfen aufgehängt“, verriet er einmal der Tageszeitung Die Welt.
Da gehörten plötzlich welche nicht mehr zu Triest, die seit Generationen in der Stadt gelebt hatten. Für die Slowenen war Triest im Habsburgerreich, in dem auch Pahor noch geboren war, mehr noch als Laibach das kulturelle Zentrum. Und sie hatten sich langsam etabliert. Nicht mehr nur Dienstmädchen und Bauern waren die Slowenen, sondern auch Angestellte, Selbstständige, Dienstleister, Intellektuelle.
Der Nationalitätenkampf sollte das nun italienische Triest begleiten. Zumal östlich der Grenze ein neuer Staat entstanden war, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Triests slawische Bevölkerung hatte also nun den Vergleich. Viele Slowenen radikalisierten sich und nahmen den Kampf auf. Andere zogen weg, viele von ihnen noch mit einem Satz im Ohr, den Benito Mussolini formuliert hatte, als er 1920 sagte: „Zur Verwirklichung des mediterranen Traums muss der Adriaraum in unseren Händen sein; angesichts der minderwertigen und barbarischen Rasse der Slawen.“
Trauriger Attentäter-Platz
Boris Pahor ist geblieben. Er ist heute, inzwischen mehr als hundert Jahre alt, der älteste lebende Schriftsteller slowenischer Sprache mit italienischem Pass. Und er ist noch immer Triestiner. Einer, der darum kämpfen musste, es zu bleiben.
Bis heute ist die Piazza Oberdan ein Ort geblieben, der sich jeder einfachen Beschreibung entzieht. Ja, es stimmt mich traurig, wenn ein Platz einem Attentäter gewidmet ist. Aber welche Tragödie verkörpert dieser junge Slowene, der ein italienisches Triest herbeibomben wollte, dem später, als es Wirklichkeit wurde, seine Landsleute als Erste zum Opfer fallen sollten?
Als Poris Pahor vor Kurzem die Essenz seines über hundert Jahre langen Lebens in einem Stück Literatur unterzubringen versuchte, hat er dafür jenen Ort ausgesucht, in dessen Nähe er geboren wurde. „Piazza Oberdan“ heißt die Novelle, und Pahor beschreibt den Platz als Schicksalsort der Slowenen in Triest. Für Pahor ist Guglielmo Oberdan nicht bloß ein irredentistischer Amokläufer, er sieht ihn als an den Rand gedrängten und radikalisierten jungen Slowenen. Dass er dabei ausgerechnet zum italienischen Irredentisten wurde, sei nicht untypisch für das Schicksal der slowenischen Minderheit, die ihren Platz in Triest erst noch finden musste.
Pahor hat ihn gefunden, aber erst im italienischen Triest, und auch nur im politischen Untergrund. Als der Knabe, der mit sechs Jahre mit ansehen musste, wie der Narodni Dom abgefackelt wurde, zum jungen Mann heranreifte, erreichte die Hetze gegen die Slowenen in der Stadt ihren Höhepunkt – und wieder einmal wurde die Piazza Oberdan zum Schauplatz der italienischen und später dann der deutschen Herrenpolitik. Direkt am Platz befand sich seit 1943 das Gestapo-Gefängnis, hinter dem sich 1944 auch für Boris Pahor die Gitter schließen würden. Er überlebte die Konzentrationslager Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen und verarbeitete das, was er dort erlebt hat, in einem Roman mit dem vielsagenden Titel „Nekropolis“. Nach seiner Befreiung studierte er in Padua Literatur und kehrte in seine Heimatstadt zurück, wo er von 1953 bis 1975 als Lehrer arbeitete. Der Stadt dauerhaft den Rücken zu kehren, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
Für Triest endete der Krieg nicht 1945, sondern erst 1954. Anfang der fünfziger Jahre war Triest aufgeteilt in eine von den Amerikanern besetzte Zone A und eine Zone B, die unter jugoslawischer Militärverwaltung stand. Denn nicht nur die Italiener hatten Anspruch auf Triest erhoben, sondern auch Titos Jugoslawien.
Vielleicht endete die Nachkriegszeit in Triest aber auch erst 1993, dem Jahr, in dem Riccardo Illy Bürgermeister wurde und ins Rathaus an die Piazza dell’Unità d’Italia einzog, den Blick vom Amtszimmer auf die Adria gerichtet. Von seinem Schreibtisch aus sah er ein Meer, das im Bewusstsein der Triestiner zum Gestern gehörte, es war ein Meer der Vergangenheit und ohne Zukunft, so wie es einmal der Publizist Paolo Rumiz in der Repubblica ausgedrückt hatte: „Von 1945 bis in die achtziger Jahre war das Meer aus dem kollektiven Gedächtnis der Triestiner verschwunden. Sie standen mit dem Rücken zum Wasser, die Gewehre gegen den Karst gerichtet.“
Riccardo Illy ließ nicht nur Europas schönsten Meeresplatz mit den Bauten aus der Kaiserzeit, dem barocken Vierkontinentebrunnen und der Statue Karls VI. in altem Glanz erstrahlen; er drehte die Stadt auch wieder dem Meer zu. Der Spross der Kaffeedynastie, der in Triest 1955, nur ein Jahr nach der Rückkehr der Stadt zu Italien, geboren wurde, wollte nicht länger, dass seine Stadt am Rande Europas lag. Er wollte Triest wieder zu einem Kraftfeld machen, zu einer Stadt des Handels mit den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
Nicht mehr nur traurig sollte Triest nun sein, sondern auch erfolgreich. Neuen Lebensmut sollte es schöpfen, und endlich die Melancholie des Fin de Siècle ablegen. Unter Illys Ägide wurde nicht nur die große Meerespiazza renoviert, sondern auch die Altstadt am Fuße des San-Guisto-Hügels. Nun musste man nicht mehr ganz so oft damit rechnen, dass einem, wenn die Bora von oben auf die Stadt hinabpeitschte, die Ziegel der Dächer um die Ohren flogen. Zuvor sah es entlang der Via Cavana noch so aus wie zu James Joyce’ Zeiten, als die Huren die Straßen bevölkerten und den Matrosen aus dem Hafen zuriefen: „Na Kleiner, wie wär’s mit uns?“ Mussolini hatte die Altstadt verrotten lassen, weil sie österreichisch, also nicht italienisch war.
Illy orientierte sich nach Osten: „Als ich als Bürgermeister anfing“, erzählte er einmal, „war die Stadt verschlossen und unterhielt so gut wie keine Beziehungen zu der Bevölkerung, die sie umgab. Die Slowenen und Kroaten galten als Feinde.“
Nach der Schockstarre
Riccado Illy ging ein hohes Risiko. Er weckte nicht nur Triest aus seinem Dornröschenschlaf, sondern auch nationale Gefühle, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Art Schockstarre eingefroren waren. Für das traditionell rechte und nationalistische Milieu war Illys Politikwende eine Provokation.
Riccardo Illy habe Triest wieder auf die Landkarte Europas zurückgebracht, sagen die anderen. Vielleicht hat er aber auch nur jenes Klima wieder in Erinnerung gerufen, in dem die Vielstimmigkeit seiner Kultur gedeihen konnte und kann. Plötzlich erhoben sich nämlich auch wieder die anderen Stimmen, jene, denen es um Versöhnung und nicht um Spaltung ging. 1997 veröffentlichte der Triestiner Schriftsteller Fulvio Tomizza seinen Roman „Franziska“, eine Liebesgeschichte zwischen einem slowenischen Mädchen und einem italienischen Offizier aus der Zwischenkriegszeit. Nicht mehr nur die Triestinità war auf die literarische Landkarte zurückgekehrt, sondern auch ihr Hinterland.
■ Vorabdruck aus: Uwe Rada: „Die Adria. Die Wiederentdeckung eines Sehnsuchtsortes“ (Pantheon Verlag, 336 Seiten, 14,99 Euro, erscheint in diesen Tagen)
■ Der Autor ist langjähriger Redakteur der taz