Linker als die Linken

EUROKRISE EZB-Chef Mario Draghi ist sogar noch radikaler als die französischen Sozialisten. Und er hat erkannt, wie man das System rettet

■ ist Wirtschaftskorrespondentin und Autorin im Meinungsressort der taz. Zuletzt erschien von ihr „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (2013).

EZB-Chef Mario Draghi gehört zur Oberschicht. Sein Vater war leitender Beamter, seine Frau stammt aus dem italienischen Hochadel, und Draghi selbst hat am MIT in Cambridge bei zwei Nobelpreisträgern promoviert und zwischendurch bei der Investmentbank Goldman Sachs Millionen verdient.

Es mag etwas albern wirken, Draghis Biografie zu erwähnen, aber nicht wenige Deutsche scheinen den Verdacht zu hegen, er sei ein „Linker“ oder wisse – „typisch Italiener“ – nicht, wie man mit Geld umgeht.

Doch für Draghi gilt, was auch auf den britischen Ökonomen Keynes zutraf, der ebenfalls aus der Elite stammte: Er ist konservativ. Er will das System erhalten, von dem die europäischen Oberschichten profitieren. Aber anders als viele deutsche Traditionalisten hat Draghi – wie einst Keynes – erkannt, dass man das System nur retten kann, wenn man es als Ganzes sieht.

Sensationelle Rede

Dies mag wie die Tautologie vom Dienst klingen, aber erstaunlicherweise wird fast nie systemisch gedacht. Schon gar nicht in Deutschland. In der vergangenen Woche fiel Finanzminister Schäuble nur ein, dass die Eurokrise mit „soliden Finanzen“ am besten zu bewältigen sei. Seit fünf Jahren sagt er das – und seit fünf Jahren ist die Eurozone in der Krise.

Mit seinen dürren Worten reagierte Schäuble auf eine sensationelle Rede, die Draghi in Jackson Hole in den Rocky Mountains gehalten hatte. Jedes Jahr Ende August treffen sich dort die wichtigsten Notenbanker der Welt. Diesmal schreckte Draghi seine Kollegen mit zwei Botschaften auf, von denen eine ganz klar und die andere etwas verklausuliert war.

Draghis superdeutliche Aussage hieß: Europa steuert unaufhaltsam auf eine gefährliche Deflation zu, also auf ständig sinkende Preise. Momentan liegt die Inflation in der Eurozone bei 0,3 Prozent, was schon schlimm genug ist. Aber noch bedrohlicher ist, dass niemand mehr annimmt, dass die Preise künftig wieder steigen könnten. Dies zeigt sich bei den deutschen Staatsanleihen: Selbst zehnjährige Papiere werfen nur noch eine Rendite von 0,9 Prozent ab. Die Anleger rechnen offenbar nicht damit, dass die Inflation demnächst anzieht. Sonst wären sie nicht bereit, sich für so lange Zeit zu so niedrigen Zinsen zu binden.

Eine Deflation ist gefährlich, weil sie kaum zu stoppen ist, sobald sie einmal eingesetzt hat. Es entsteht ein fataler Teufelskreis: Die Kunden verschieben ihre Käufe, weil alle hoffen, dass die Waren noch billiger werden. Da der Umsatz stagniert oder gar sinkt, investieren die Firmen nicht mehr – und die Wirtschaft schrumpft weiter.

In Jackson Hole kündigte Draghi daher an, dass die EZB „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ versuchen werde, die Inflation wieder anzuheizen. Die Notenbank wird also Geld in die Wirtschaft pumpen, und dafür bleibt ihr nur noch ein einziges Mittel: In großem Stil muss sie Staatsanleihen aufkaufen. Diesmal wird sie nicht nur die Papiere der Krisenstaaten erwerben, wie sie es in der akuten Phase der Eurokrise tat, sondern auch deutsche Papiere aufkaufen. Es wird ein Flächenbombardement.

Karlsruhe ist machtlos

Zumindest ein Aspekt daran ist lustig: Die Realität überholt das Bundesverfassungsgericht, auf das die deutschen Traditionalisten noch immer hoffen. Die Karlsruher Richter waren bereits entsetzt, als die EZB ganz gezielt und sehr beschränkt die Anleihen einzelner Krisenstaaten aufkaufte. Aber das war noch gar nichts. Machtlos wird das Bundesverfassungsgericht zusehen müssen, wie die EZB zu einer normalen Notenbank wird. In den USA, in Japan oder England ist es selbstverständlich, dass die Zentralbank Staatsanleihen erwirbt, um die Inflation zu steuern.

Die Frage ist nur noch, wann Draghi beginnt, Papiere aufzukaufen. Manche Börsianer wetten auf diesen Donnerstag, wenn sich der EZB-Rat in Frankfurt trifft. Doch Draghi dürfte sich Zeit lassen, denn er hat nur noch diese eine Chance. Falls der Aufkauf der Staatsanleihen wirkungslos verpufft, besitzt die Notenbank keine weitere Optionen mehr. Sie ist dann machtlos.

Leider ist es sehr wahrscheinlich, dass die EZB bereits jetzt ohnmächtig ist. Sie kann zwar die Zinsen drücken, aber niemanden zwingen, Kredite aufzunehmen. Firmen und Konsumenten werden jedoch auf Darlehen verzichten, solange die europäische Wirtschaft stagniert oder schrumpft. Doch Nachfrage kann die Notenbank nicht erzeugen – das kann nur der Staat.

Draghi weiß genau, dass er machtlos ist, wie seine zweite Botschaft aus Jackson Hole zeigt: Er forderte Deutschland indirekt auf, die Löhne zu erhöhen. Dies ist eine Wende.

Draghi steht eigentlich der neoklassischen Ökonomie nahe, die Löhne nur als Kosten versteht – und Arbeitskräfte betrachtet, als wären sie Kartoffeln. Nach dem Motto: Wenn niemand Gemüse haben will, muss man den Preis senken, und wenn Menschen arbeitslos sind, dann ist wohl der Lohn zu hoch. Also runter mit den Gehältern!

Die EZB wird wieder Staatsanleihen erwerben – und diesmal auch deutsche Papiere. Es wird ein Flächenbombardement

Menschen sind keine Kartoffeln

Die Neoklassik übersah dabei, dass Kartoffeln nur Kartoffeln sind. Kartoffeln können nichts kaufen, was bei Löhnen bekanntlich anders ist. Sie sind nicht nur Kosten, sondern auch Nachfrage. In Jackson Hole vollzog Draghi die keynesianische Wende und beklagte das „gedämpfte“ Lohnwachstum und die „trübe“ Nachfrage in den „Nichtkrisenländern“. Vulgo: in Deutschland.

Der konservative Draghi ist damit weiter als die französischen Sozialisten. Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg wurde in der vergangenen Woche gefeuert, weil er höhere Staatsdefizite gefordert hatte, um die Konjunktur anzukurbeln. Auch Draghi will die Austeritätspolitik verlassen. Aber anders als die französischen Sozialisten hat er begriffen, dass der Staat allein die Wirtschaft nicht beleben kann. Die Gehälter machen etwa 65 Prozent des Volkseinkommens aus. Also müssen sie steigen, wo sie steigen können. Und da fällt der Blick sofort auf Deutschland, das seit 1998 seine Löhne drückt.

Als die Botschaften aus Jackson Hole nach Deutschland drangen, war Kanzlerin Merkel so erschrocken, dass sie Draghi anrief, um zu fragen, ob er das wirklich meine. Man kann sicher sein: Draghi meint, was er sagt.

ULRIKE HERRMANN