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Archiv-Artikel

Mord, Kapitalismus etc. Die russische Variante

„Kapitalismus ohne Demokratie“, so fasste Thomas Krüger, der die Bundeszentrale für politische Bildung leitet, die zuvor getätigten Aussagen zur gegenwärtigen Situation in Russland gewohnt lakonisch zusammen. Und setzte hinzu: „Wann erreicht das Europa?“ – „Sind Sie sicher, dass es uns noch nicht erreicht hat?“, retournierte Hans-Henning Schröder, seines Zeichens Professor und Leiter der Forschungsgruppe Russland/GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Gute Antwort.“ Das Publikum und Krüger lachen jetzt.

Der Diskussion zum Gedenken an die russische Journalistin Anna Politkowskaja, die im letzten Jahr in ihrem Hauseingang erschossen wurde, glückte es, keinen Mentalitätsgraben zwischen „den“ vermeintlich demokratieunbegabten Russen und „den“ pluralistisch gesinnten Europäern auszuheben. Immer wieder bat Schröder das zahlreiche Publikum, sich klarzumachen, was in Russland in den letzten zehn Jahren passiert ist. So fand zwischen 1991 und 1995 eine gigantische Umverteilung statt. Gasquellen, Ölquellen und riesige staatliche Betriebe wurden privatisiert. Eine Minderheit, in der Regel unter 40 Jahre alt, bereicherte sich flugs – Russland steht in Sachen Milliardärsdichte mittlerweile an dritter Stelle. Die weniger skrupellose Mehrheit fand sich dagegen einer „entsetztlichen Armut“ ausgesetzt. Schlagartig sank die Lebenserwartung um rund fünf Jahre auf 58 Jahre bei Männern beziehungsweise 65 bei Frauen. Zum Vergleich: In Deutschland werden letztere durchschnittlich 84 Jahre alt; Männer kommen auf 79. Putin hat in diesem Chaos des Wild-West-Kapitalismus – so sieht es wenigstens die Mehrheit der russischen Wähler – für eine gewisse Ordnung gesorgt. Dafür wird er geschätzt und die meisten würden ihn, wäre es verfassungstechnisch möglich, 2008 in eine dritte Amtszeit wählen.

Anna Politkowskaja hat ihr Leben dafür eingesetzt, gegen diese Ansicht anzuschreiben. Morddrohungen und Verhaftungen zum Trotz kritisierte sie den Exgeheimdienstler für seinen Rassismus, für die Tschetschenienkriege, für Folter und Hunger in der russischen Armee, für die gnadenlose Verfolgung von kritischen Journalisten. Ihre Reportagen wurden vor allem im Westen verlegt. „Man will nicht glauben, dass der politische Winter wieder für Jahrzehnte in Russland Einzug hält. Man möchte so gerne leben“, schreibt sie in „Putins Russland“ (2006). Desillusioniert fügt sie an, dass vom Westen übrigens keine Hilfe zu erwarten ist. Weil ihm, wie auch Deutschland vieles, etwa der „Wodka, Kaviar, Gas, Öl, Bären, eigentümliche Menschen“ zupasskommt. Da er für mehr als aufgeschlossene Märkte und kuschelige Exotismen keine Verwendung habe, reagiere er „schlapp auf Putins ‚Anti-Terror-Politik‘.“ Die blühenden Geschäfte, die stetig verkleinerten Forschungseinrichtungen und zurückgehenden Touristenzahlen geben ihr unseligerweise Recht. Desgleichen natürlich die Rede des Exkanzlers von einer „lupenreinen Demokratie“. Ob sich unter der großen Koalition etwas geändert habe? Nur der Stil, sagt Schröder, nicht die Politik. INES KAPPERT