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Archiv-Artikel

Sind Hauptschüler bessere Analytiker?

Hauptschüler werden in der Öffentlichkeit und auch in der Bildungspolitik häufig unter Wert geschlagen. Bei einem neuen Bildungsprojekt mit dem Titel „Lernen als Recherche“, mit dem Kontext-Redakteure in die Schulen gehen, zeigt sich jedoch, dass sie mitunter strukturierter denken als Gymnasiasten – weil sie sinnlicher wahrnehmen. Das offenbart sich ausgerechnet bei einer Gedichtanalyse

von Rainer Nübel

Es mutet wie ein skurriler bildungspolitischer Extremversuch an: Ein und dieselbe Gedichtanalyse in der Oberstufe eines renommierten Gymnasiums – und in einer neunten Hauptschulklasse. Konträrer könnten die beiden Schulwelten kaum sein. Hier Schüler vor dem Abitur, die meisten aus Mittelstandsfamilien, dort Jugendliche auf Lehrstellensuche, der Migrantenanteil liegt bei fast 80 Prozent. Und dann ausgerechnet Gedichte, intellektuelle Sprachgebilde, die vielleicht künftige Akademiker knacken können, nach landläufiger Meinung, doch nicht angehende Fabrikarbeiter oder Friseusen. Doch plötzlich, im Verlauf des neuartigen Projekts „Lernen als Recherche“, stehen zementierte Denkweisen kopf. Die faustdicke Überraschung ergibt sich durch eine sehr konkrete Frage: Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Soldatenhelm rostet?

In der ersten Phase des Projekts sind die Klassen in der großen Pause auf Recherche gegangen, an verschiedenen Ecken ihres jeweiligen Schulgeländes, auf dem Hof oder Bolzplatz, am Bäckerstand, im Lehrerzimmer oder in den Toiletten. „Schaut ganz genau hin“, haben ihnen die Journalisten zuvor ans Herz gelegt, „und schreibt alles auf.“ Auch sollten sie Leute befragen, um Zitate zu sammeln, und auf jedes einzelne Detail achten, das für ihr Thema wichtig sein könnte. So, wie es recherchierende Reporter eben machen müssen. Die gewonnenen Informationen und Impressionen haben die Schüler dann unter Anleitung in eine Struktur gebracht und daraus kleine Erzähltexte verfasst.

Schon da fiel auf: Stilistisch sind die Texte der Gymnasiasten gefälliger und meist anspruchsvoller. Doch was die Menge und auch die Qualität der gesammelten Informationen angeht, stehen die Hauptschüler den angehenden Abiturienten häufig in nichts nach. Manche Neuntklässler haben sehr genau darauf geachtet, ob beim Pausenkick jemand ausgeschlossen wurde oder ob es Zoff gab. Oder haben penibel die Preise der Backwaren notiert und festgehalten, wie viele Mitschüler sich nach dem Toilettenbesuch die Hände wuschen oder nicht. Genaues Hinsehen.

Und jetzt also das Experiment, Lernpädagogen würden eher vom „Transfer“ sprechen. Was in den kleinen Pausenreportagen geübt wurde, ist nun auf ganz anderem schulischen Terrain umzusetzen, einem Terrain, das für viele Schüler gemeinhin der blanke Schrecken ist: Die Aufgabe ist, ein Gedicht zu „recherchieren“. Also: genau auf den Text schauen, Wort für Wort, Zeile für Zeile, Bedeutungen erkunden, nach Zusammenhängen suchen, im einzelnen Motiv das Thema erkennen – letztlich der inhaltlichen Struktur dieses Textes immer näher kommen. Die konkrete Recherchefrage lautet: Von welcher Zeit handelt das Gedicht, wann könnte es entstanden sein?

Keiner der Gymnasiasten und Hauptschüler kennt das Gedicht und den Autor: „Schuttablage“ von Günter Eich. Greifbar wird darin das konkrete Bild einer Schutthalde. Brennesseln wuchern darauf, der Wind bewegt „die Elastik einer Matratzenfeder“. Auf herumliegenden Scherben eines mit Blumen und Trauben verzierten Tafelgeschirrs stehen in verwischter goldener Schrift die Wörter „Glaube“, „Liebe“ und „Hoffnung“ – der Bruch hat das biblische Wort von „Glaube, Hoffnung und Liebe“ verkehrt und neu zusammengefügt. In einem verrosteten Helm, in dem sich Wasser gesammelt hat, baden Vögel. Von der „Trauer der Welt“ ist die Rede, auch von der „verlorenen Seele“, das Gedicht endet mit den Zeilen: „Verlorene Seele, wen du auch verlässt, / wer fügt dich zusammen in Gnade?“

Bei ihrer Gedichtrecherche sollen die Schüler beider Klassen zunächst das Konkrete und das Allgemeine im Text finden und markieren. Heißt: alle Wörter und Passagen umkringeln, die etwas benennen, was man anfassen kann, also buchstäblich begreifbar ist – alles, was Gefühle ausdrückt oder abstrakt ist, soll hingegen unterstrichen werden. Der nächste Schritt ist, nach Bezügen zwischen dem Konkreten und dem Allgemeinen zu suchen.

Die Hauptschüler aus Stuttgart-Plieningen listen in relativ kurzer Zeit die konkreten Dinge auf, die sie im Eich-Gedicht gefunden haben: die Brennnesseln, die Matratzenfeder, die goldene Tafelschrift, die Scherben. „Da ist etwas kaputtgegangen“, bemerkt ein Neuntklässler. „Und jetzt liegt es auf einer Müllhalde rum“, sagt eine Mitschülerin. Dann stoßen sie auf den Helm. Und die Recherchefrage: Um was für einen Helm kann es sich handeln? Die Finger schnellen hoch: „Bauhelm, Motorradhelm, Feuerwehrhelm, Soldatenhelm, Ritterhelm.“ Eine ziemlich lange Liste. Doch dann kommt aus den vorderen Reihen Einspruch: „Im Gedicht steht ‚im verrosteten Helm‘. Dann kann es kein Motorradhelm sein. Und auch kein Bauhelm. Und auch kein Feuerwehrhelm. Die sind nämlich aus Kunststoff, die rosten nicht.“ Mit mittelalterlichen Rittern scheine das Gedicht nichts zu tun zu haben, bemerken die Schüler. „Also muss es ein Soldatenhelm sein.“ Eine Schülerin meldet sich: „Da geht es um den Krieg – und dass danach alles kaputt ist.“

Szenenwechsel. Die Reutlinger Oberstufengymnasiasten haben sich rasch auf die „Trauer der Welt“ konzentriert, von der am Gedichtanfang die Rede ist. Die Brennnesseln, die Matratzenfeder und die goldene Tafelschrift interessieren sie weniger. „Die Grundstimmung ist melancholisch“, stellen manche fest. Das konkrete Motiv der Scherben bleibt unangesprochen, dafür fixieren sich die Zwölftklässler auf „Liebe, Hoffnung und Glauben“.

Einigen Schülern dämmert, dass es sich um einen christlich-religiösen Kontext handeln könnte, konkreter wird es nicht ausgeführt. Andere kaprizieren sich auf ein Wort: Liebe. „Ist vielleicht eine Beziehung auseinandergegangen, worüber man traurig ist?“, fragt eine Gymnasiastin. Als der Helm in den Blick gerät, wird in der Klasse eine andere Interpretation ventiliert: „Das scheint so etwas wie eine Trauerfeier für einen verstorbenen Motorradfahrer zu sein.“ Dass der Helm im Eich-Gedicht aber verrostet ist, bemerkt offenbar niemand in der Klasse.

Erst als sie darauf aufmerksam gemacht wird, kommen Wortmeldungen, dass es sich wohl eher um einen Soldatenhelm handele. Und das Gedicht „irgendwie was mit Krieg zu tun haben könnte“. Rund zwanzig Minuten sind seit Beginn der Gedichtrecherche vergangen.

Gymnasiasten kaprizieren sich auf abstrakte Begriffe

Nach derselben Zeit meldet sich in der Plieninger Hauptschule Patrycja zu Wort. Die 15-Jährige aus einem polnischen Elternhaus lächelt keck. „Ich weiß jetzt, von welcher Zeit das Gedicht handelt und wann es geschrieben wurde.“ Das verdutzte Gesicht des Journalisten vorn an der Tafel scheint sie zu genießen. „Bis etwas verrostet ist, dauert es ein bis zwei Jahre“, hebt sie an. „Der Zweite Weltkrieg war 1945 zu Ende. Also müsste das Gedicht 1946 oder 1947 geschrieben worden sein.“ Sie überlegt kurz. „Ich tippe auf 1947.“

Günter Eich hat „Schuttablage“ im Jahre 1947 verfasst.

Ist es bloßer Zufall, dass Hauptschüler im Falle dieser Gedichtrecherche schneller auf den springenden Punkt kamen als Abiturienten? Eher nicht. Denn die Kontext-Redakteure, die mit „Lernen als Recherche“ an Schulen aller Gattungen gehen, haben in den vergangenen zwei Jahren immer wieder dieselbe Erfahrung gemacht: Auffallend viele Gymnasiasten formulieren eher das Allgemeine, die „Idee“, sie bleiben häufig abstrakt und schweben gerne über einzelne konkrete Motive und Bausteine eines Textes hinweg. Dagegen nehmen Hauptschüler sinnlicher wahr, sie halten sich stärker ans Konkrete, an die Dinge, und versuchen so dem Thema, also dem Allgemeinen näher zu kommen.

Neue Pisa-Untersuchungen haben ergeben, dass zehn Prozent der Schüler, die einen Hauptschulabschluss anstreben, mindestens so gut lesen können wie die unteren zehn Prozent am Gymnasium. Die Erfahrungen aus dieser Gedichtrecherche geben noch mehr zu denken. Sie werfen eine bildungspolitisch pointierte, ja sogar provokante Frage auf: Sind Hauptschüler die besseren Lyrikinterpreten? Eines jedenfalls zeigen diese Szenen aus der Schule: Das in der Gesellschaft allzu gängige Bild von Hauptschulklassen als zukunftsloser Ort vieler „Bildungsferner“, in denen Migrantenkinder ein buchstäblich gebrochenes Verhältnis zur deutschen Sprache haben und jedes vertiefte Verständnis anspruchsvollerer Texte so selten ist wie ein Skilift in Ostfriesland, gehört auf die „Schuttablage“ realitätsferner Klischees. Die angeblichen „Loser“ haben ihre Qualitäten – auch wenn das soziale und familiäre Umfeld nicht selten problematisch ist.

Strukturiert denken und arbeiten zu können, ist eine Schlüsselqualifikation für jeden Schüler, gleichgültig ob er später einen akademischen Beruf ausüben wird oder als Facharbeiter schafft. Und es ist ein wesentlicher Faktor von Lernkompetenz. Wer strukturiert denken kann, erkennt rascher und hintergründiger den Sinn eines Textes oder das mathematische Prinzip, das hinter einer Rechenaufgabe steckt.

Deutsche Schüler weisen laut der aktuellen Pisa-Studie gerade im Verstehen von Texten nach wie vor erhebliche Defizite auf. Wie auch Lehrer immer wieder bestätigen, gibt es häufig zwei Problemmuster. Populär ausgedrückt: Viele Schüler sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht – andere sehen den Wald, das Allgemeine, aber nicht die Bäume, das Einzelne.

Daher erscheint es als sinnvoll, gerade die Fähigkeit zum strukturierten Denken und Arbeiten zu entwickeln und zu fördern. Das Projekt „Lernen als Recherche“ setzt bewusst hier an. Journalisten verfügen, dem werden kritische Mediennutzer sofort zustimmen, keinesfalls über mehr Fähigkeiten als Vertreter anderer Berufsgruppen. Doch sie müssen, neben dem Schreibtalent, besonders jene Kompetenz mitbringen und umsetzen, die auch fürs Lernen zentral ist: Informationen durch genaues Beobachten sammeln und dann strukturieren, das Wichtige vom weniger Wichtigen trennen – sowie im Einzelnen und Konkreten das Allgemeine, das Thema erkennen und umgekehrt das Thema im Konkreten festmachen. Journalistische Recherche funktioniert also wie Lernen. Die Spielregeln von Recherche zu vermitteln, bedeutet damit: Lernen zu lehren.

Dieses externe Angebot stößt auf beachtliche Resonanz. In mehr als 20 baden-württembergischen Gymnasien, Real- und Hauptschulen haben Journalisten aus der Kontext-Redaktion bereits „Lernen als Recherche“ umgesetzt. Das Projekt kostet die Schulen nichts, es wird von der Berthold-Leibinger-Stiftung finanziell gefördert. Meist bauen die Lehrerprofis an den Schulen „Lernen als Recherche“ in den laufenden Deutschunterricht ein, manche Schulen haben es inzwischen aber auch zum festen Bestandteil ihrer Methodentage gemacht.

Höchste Zeit für neue Lerninhalte

Auch das zählt zu den spannenden Erfahrungen der Journalisten, die so manches Negativklischee widerlegen: Es gibt in den Schulen aller Gattungen überaus engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die sich intensiv damit auseinandersetzen, wie sie ihre Schüler voranbringen. Und die bewusst innovative Ideen suchen und umsetzen.

In der Bildungspolitik wird derweil sehr viel und kontrovers diskutiert, über die Ganztagesschule etwa oder den Sinn oder Unsinn des dreigliedrigen Schulsystems. Oder ob jetzt in einem Sparkurs in Baden-Württemberg tatsächlich alle frei werdenden Lehrerstellen abgebaut werden sollen, wie es die künftige grün-rote Regierung bei ihren Koalitionsverhandlungen gerade verkündet hat. Es ist sozusagen die Hardware, die meist oder fast ausschließlich im Mittelpunkt der Bildungsdebatte steht. Doch ist es nicht höchste Zeit, sich verstärkt auch um die Software, also um neue Lerninhalte zu kümmern?

Ob Gymnasium, Real- oder Hauptschule: Die Erzähltexte, die aus der Pausenrecherche entstehen, zeugen nicht selten von einer beachtlichen Kreativität. In der achten Klasse des Reutlinger Isolde-Kurz-Gymnasiums dachte sich eine Schülergruppe gar in das emotionale Innenleben eines Getränkeautomaten hinein. Cola und Fanta, so mutmaßt der Erzähler, scheinen eine Liaison zu haben, aus der ein kleines Spezi erwachsen ist. Als ein Schüler am Automaten den Fanta-Knopf drückt, kommt es zu einer bewegenden Abschiedsszene: „Adieu, mon amour“, haucht Fanta zu Cola.