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Archiv-Artikel

„Jeden Menschen als Ganzes betrachten“

INKLUSION Verschiedenartiges zusammenfügen – Behinderte und Nichtbehinderte etwa – macht für Heilpädagogen schon seit den 20er Jahren Sinn. Ausbildungsmöglichkeiten mit anthroposophischer Perspektive gibt es in Bad Boll und in Kassel, auch berufsbegleitend

„Wenn ich mich selbst entwickle, kann ich auch anderen dabei helfen“

VON BIRGIT HEITFELD

Johannes Wolter wollte beruflich „irgendwas mit Menschen“ machen. Während seines Zivildienstes lernte er den Alltag behinderter Menschen näher kennen, und das war für ihn ein Schlüsselerlebnis: „Ich hatte damals eine intensive Selbstbegegnung. Mir wurde bewusst: Wenn ich mich selbst entwickle, kann ich dazu beitragen, solche Entwicklungsmomente auch in anderen Menschen auszulösen.“

Lebenslanges Lernen impulsieren – diese Idee des Anthroposophen Rudolf Steiner faszinierte Wolter so sehr, dass er nach seiner Ausbildung zum Heilerziehungspfleger noch ein Studium zum Diplom-Waldorf-Pädagogen absolvierte. Inzwischen arbeitet er seit vielen Jahren als Dozent am Rudolf-Steiner-Institut in Kassel, das er mit aufgebaut hat, und bildet Heilpädagogen aus. Ein Berufsfeld, das an Bedeutung gewinnt.

In Zukunft werden neben den traditionellen Einsatzbereichen, zum Beispiel in Heimen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung oder Sonderschulen mehr und mehr Inklusionsbegleiter gesucht. Das sind im Fachjargon Pädagogen, die Menschen mit Behinderungen oder mit psychischen Verhaltensauffälligkeiten helfen, sich im Alltag zurechtzufinden, etwa in einer Regelschule. Inklusion bedeutet Dazugehörigkeit und Wertschätzen von Vielfalt, während die Konzepte der Integration eher vom Grundgedanken der Andersartigkeit ausgingen: Verschiedenartiges sollte durch Integrieren harmonisch zusammengefügt werden. Die Verwirklichung der Inklusion beruht auf einer UN-Konvention aus dem Jahre 2009, welche die Rechte von Menschen mit Behinderung regelt, und sie ist in Deutschland inzwischen auch verbindliches Recht. Vordenker Rudolf Steiner war der Debatte der UN in Sachen Inklusion ein knappes Jahrhundert voraus, als er die Ideen seiner Heilpädagogik in den 20er Jahren in der „Stuttgarter Schule“ entwickelte. So ist die Wortsilbe „Heil-“ weniger im Sinne von Reparatur zu verstehen, sondern als holistisch ausgerichtet, ganzheitlich, allumfassend.

„Jeder Mensch hat Einschränkungen und möchte als Ganzes betrachtet werden“, unterstreicht Annette Pichler, Leiterin des Rudolf-Steiner-Seminars, das im 5.000 Einwohner zählenden Kurort Bad Boll (Baden-Württemberg) angesiedelt ist. „Wir arbeiten ressourcenorientiert mit Menschen und konzentrieren uns nicht auf Defizite“, sagt Pichler, selbst Waldorfschülerin mit Ausbildung zu Heilerziehungspflegerin und Psychologiestudium.

Zusammen mit dem Rudolf-Steiner-Institut in Kassel (Hessen) gehört es in Deutschland zu den beiden staatlich anerkannten Ausbildungsstätten für Heilpädagogik mit anthroposophischer Ausrichtung. Die beiden sind wie Schwestern: Sie haben vieles gemeinsam und konkurrieren auch miteinander. Sie stehen im fachlichen Austausch und lassen sich auch schon mal gegenseitig zu kleinen Seitenhieben hinreißen. Inhaltlich verfolgen beide aber ähnliche Ziele. Dabei spielt Kunst in der Ausbildung eine fundamentale Rolle. Ob Malen, Schreiben, Bildhauern oder Musizieren: Die künstlerischen Übungs- und Erlebnisprozesse ermöglichten eine intensive Begegnung mit dem Kind. Für den Laien klingt es zunächst ungewöhnlich, wenn der Heilpädagoge von Beziehungskunst oder Menschenpflege spricht. „Die Anthroposophie ist ein wichtiger Bestandteil in der Ausbildung, aber wir sind weltanschaulich nicht gebunden“, unterstreicht Annette Pichler.

Gelehrt werde Anthroposophie im Dialog mit anderen Richtungen der Psychologie. Die Überschrift bei beiden Einrichtungen heißt „Triale Ausbildungsmethodik“. Vereinfacht gesagt, ein Dreigestirn aus Kunst, Theorie und Praxis. Geschult werden Einfühlungsvermögen, Erkenntniskraft sowie die diagnostischen Fähigkeiten, um auf besonderer Weise auf die Schützlinge eingehen zu können.

Neben Kursen in pädagogischen und psychiatrischen Fächern stehen auch Medizin, Rechtskunde sowie Gesprächsführung und Kommunikation auf dem Stundenplan. „Die Beratung mit Institutionen, Eltern, Kollegen und Fachleuten ist im Alltag eines Heilpädagogen sehr wichtig“, so Wolter. Bad Boll wirbt demgegenüber mit der Vollzeitvariante, auch für die heilpädagogische Arbeit mit Erwachsenen zu qualifizieren. Kassel konzentriert sich auf Kinder und Jugendliche.

Immer mehr Bewerber bevorzugten das berufsbegleitende Studium, sagt Johannes Wolter. Wer in Kassel anfangen will, muss eine halbe Anstellung in einer sozialpädagogischen Einrichtung nachweisen. Voraussetzung ist eine abgeschlossene Ausbildung, typischerweise als Erzieher, Jugend- und Heimerzieher oder Heilerziehungspfleger. Auch Bewerber mit Hintergrund Altenpfleger sind willkommen.