Ein Flughafentower am Ufer der Panke

Nicht nur für den Wedding als Kulturstandort ist das Rotaprint-Gelände wichtig – das Gebäudeensemble ist ein einzigartiges Denkmal der Nachkriegsarchitektur. Über Klaus Kirsten, den Architekten, ist erstaunlich wenig bekannt

Ineinandergeschachtelte Kuben, Auskragungen, eine schräge Traufkante an der Seite, riesige Verglasungen mit feinen Stahlprofilen: Spacig und ein bisschen wie ein Flughafentower sieht er aus, der Werkstättenturm des Weddinger Rotaprint-Geländes. Die von dem Berliner Architekten Klaus Kirsten entworfenen Rotaprint-Bauten unweit des Panke-Flüsschens zählen „zu den besten Architekturleistungen der 50er-Jahre in Berlin“. Das befand der damalige Landeskonservator Helmut Engel höchstpersönlich in seiner Begründung der Unterschutzstellung im Jahre 1991 – das Gutachten war seine letzte Amtshandlung, wird kolportiert.

Die architektonische Qualität des Turms fiel auch der Künstlerin Daniela Brahm auf, als sie vor einigen Jahren den im Hinterhof stehenden Bau durch eine Lücke an der Straßenfront entdeckte. Sie und die Künstlergruppe „Soup“ mieteten sich daraufhin hier mit ihren Ateliers ein: „Wir sind ganz klar wegen der Architektur hier“, so Brahm.

Heute wäre eine solche Zufallsbegegnung kaum noch möglich: Die Sichtverbindung zur Straße ist fast gekappt, ein belangloser Supermarktneubau rückt dem Turm arg auf die Pelle, es wurde sogar ein Fenster zugebaut. Das klassische Über-Eck-Foto, bei dem die räumliche Verschachtelung der Kuben besonders gut zur Geltung kommt, ist heute nicht mehr möglich.

Schon vor dem Krieg beherbergte das Gelände den Druckmaschinenhersteller Rotaprint. Nach Kriegszerstörungen wurden zunächst eingeschossige Werkshallen gebaut; dabei bezog man erhaltene Gründerzeit-Industriebauten geschickt ein. Ab 1957 leistete sich Rotaprint gestalterisch aufwendige Neubauten: Klaus Kirsten schuf den erwähnten Werkstättenturm auf dem Grundstück Reinickendorfer Straße 44 (1957–58) sowie einen Verwaltungsbau an der Ecke Gottsched-/Bornemannstraße (1957–60). Dieser besteht aus einer eingeschossigen Montagehalle mit zweigeschossigem Treppenhaus, einem fünfgeschossigen, zweihüftigen Bürobau mit für die Zeit typischer Rasterfassade und einem auffälligen Eckturm in Sichtbeton, der in ungewöhnlicher Manier die Durchdringung schiefer Winkel plastisch vorführt. Der Landeskonservator erkannte hier die Auseinandersetzung mit dem Formenrepertoire Le Corbusiers, was man nicht zwingend nachvollziehen muss. In jedem Fall werden diagonale Fluchtlinien aus der Alt- und Wohnbebauung des Blocks feinsinnig aufgenommen und zum Thema gemacht.

Die beiden spektakulären Turmbauten von Kirsten an den beiden äußeren Endpunkten des (heutigen) Grundstücks sind die architektonischen Höhepunkte des Rotaprint-Geländes. Zudem wurde noch ein zweigeschossiger Querflügel im Hof errichtet (1958) sowie ein fein proportioniertes sechsgeschossiges Fertigungs- und Bürogebäude an der Wiesenstraße 29 (1957–58 von Otto Bock), in dem heute ebenfalls Künstler sitzen.

1989 ging Rotaprint in Konkurs; die Liegenschaft fiel an das Land Berlin. 1990 wurden flächendeckend flache Produktionshallen im Westen des Geländes abgerissen. Für diesen Teil des Grundstücks, rund die Hälfte des gesamten Rotaprint-Geländes, wurde in den 90er-Jahren ein Wohnungsbauwettbewerb durchgeführt, dessen Ergebnis nicht realisiert wurde. Vielmehr wurde jüngst auf einem Teil dieser Brachfläche der genannte Supermarkt mit einem großen Parkplatz errichtet.

Die mediale Aufmerksamkeit, die Rotaprint durch die aktuellen politischen Vorgänge erhält, heben auch den beinahe vergessenen Architekten Klaus Kirsten wieder ins Zentrum des Interesses. Viel weiß man nicht über ihn. Er wurde im Jahr 1929 geboren und studierte an der TU Berlin. Er unterhielt – jedenfalls zur Bauzeit von Rotaprint – ein Architekturbüro in der Charlottenburger Wielandstraße. Für die Interbau 1957 im Hansaviertel schuf er ein aufsehenerregendes Einfamilienhaus an der Händelallee, das aber in offiziellen Interbau-Katalogen nicht genannt wurde. Von weiteren Wohn- und Gewerbebauten in Berlin, einem eigenen Haus in Zehlendorf und von mehreren Villen am Gardasee ist außerdem die Rede. Klaus Kirsten verstarb im Jahr 1999; sein Nachlass ist offenbar unzugänglich. Eine wissenschaftliche Würdigung dieses Architekten steht noch aus. Es bleibt zu hoffen, dass Rotaprint, sein wichtigstes Werk, überlebt. BENEDIKT HOTZE

Der Text erschien im Deutschen Architektenblatt 3/2007