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Archiv-Artikel

Wir sind Europa!

Kaum eine andere EU-Stadt ist so europäisch wie Berlin. Die taz fragte Berliner aus verschiedenen Ländern des Kontinents, was ihnen Europa bedeutet

Berlin empfängt heute die Staats- und Regierungschefs aller 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union zum Festakt. Was aber bedeutet Europa für Menschen, die aus europäischen Ländern nach Berlin gekommen sind, um hier ihr Glück zu finden? Die taz hat einige von ihnen gefragt.

Elisabetta Gaddoni

„Das erste Mal habe ich mit Europa Kontakt gehabt, als ich mit 18 mit einem Interrail-Transalpino-Ticket von Land zu Land reiste. Später als Deutschstudentin bin ich oft nach Berlin gekommen. Hier war es leichter als in Italien, Jobs zu finden. Später bin ich geblieben. Europa bedeutet für mich solche praktischen Vorteile: einfach in einem anderen Land studieren oder arbeiten zu können, ohne auf große bürokratische Hürden zu stoßen. Irgendwann nimmt man solche Vorteile als selbstverständlich hin, dabei sind sie das nicht. Es gibt auch die Festung Europa, damit meine ich nicht nur die toten Flüchtlinge an den Außengrenzen. Wer hier lebt, aber nicht EU-Bürger ist, hat diese Bewegungsfreiheit nicht.“

Elisabetta Gaddoni, 42, Italienerin, Moderatorin und Redakteurin bei Radio Multikulti, kam nach Berlin am Abend, als die Mauer fiel

Eric Muller

„Ich bin Franzose, meine Frau ist Brasilianerin, und zusammen betreiben wir ein Geschäft in Berlin. Dort erleben wir Europa jeden Tag: Es kommen Franzosen mit marokkanischen Wurzeln, Spanier und Italiener vorbei, ich kommuniziere täglich in mindestens drei Sprachen. Ich liebe es, wenn sich Kulturen vermischen und etwas ganz Neues, Reizvolles ergeben. Davon sind wir in der Europa allerdings noch Generationen entfernt. Ich finde, die EU ist ein guter Weg für die Zukunft, aber noch geht mir das Zusammenwachsen nicht weit genug! In Brasilien sieht man auf der Straße die aufregendsten Gesichter, Resultat der über 500 Jahre alten Vermischung zwischen Japanern, Afrikanern, Portugiesen und Europäern. Komplexe Identitäten und Biografien sind dort ganz selbstverständlich. Eines Tages möchte ich in einer europäischen Stadt auch diese Selbstverständlichkeit sehen und spüren.“

Eric Muller, 43, ist Franzose und betreibt mit seiner brasilianischen Freundin die Friseur-Konditorei „Barcellos Salon Sucre“ in Kreuzberg

Süleyman Yüksel

„Durch die europäische Einheit haben wir die Chance, Handwerker aus anderen Regionen zu beschäftigen. Denn in Deutschland fehlt es leider an Fachkräften – zum einen, weil zu wenig ausgebildet, zum anderen, weil ältere Handwerker umgeschult wurden. Deshalb ist die Öffnung des Arbeitsmarktes für uns von Vorteil. Mir persönlich bedeutet Europa sehr viel. Nehmen Sie meine Firma: Weil wir die positiven Eigenschaften türkischer und deutscher Mitarbeiter kombinieren, sind wir besser als andere. Die Deutschen sind qualitätsbewusst, die türkischen Kollegen flexibel und kundenfreundlich.“

Süleyman Yüksel, 53, stammt aus der Türkei und lebt seit 36 Jahren in Berlin. Seine Firma beschäftigt 25 Ingenieure deutscher und türkischer Herkunft

Agnes Braune

„Mit Europa verbinde ich nichts Konkretes für mich. Ich fühle mich eher deutsch und ungarisch als europäisch. Nach Berlin bin ich vor neun Jahren gekommen. Wegen meines Mannes, den ich während eines Praktikums hier kennengelernt habe. Wir haben zwei Kinder, die vier und sechs Jahre alt sind. Ich fühle mich hier sehr wohl. Auch die Arbeit macht mir Spa. In Ungarn habe ich Sozialarbeit studiert. Hier arbeite ich halbtags als Erzieherin in einer Wohngemeinschaft, in der behinderte Menschen leben. Der EU-Beitritt war meiner Meinung nach nicht gut für Ungarn. Den Menschen dort geht es seitdem schlechter, alles ist teurer geworden. Aber dem Land blieb gar nichts anderes übrig, als beizutreten. Sonst hätte Ungarn sich isoliert.“

Agnes Braune ist 35 und arbeitet in Tegel als Erzieherin. Vor neun Jahren ist sie von Szeged in Ungarn nach Berlin gekommen

Steve Redmond

„Europa ist einer der aufregendsten und kulturell interessantesten Teile der Welt – nicht zuletzt in musikalischer Hinsicht: Es gibt so viele Bands und Musiker in den einzelnen Ländern zu entdecken! Mein Leben spielt sich zwischen London und Berlin ab: Mindestens einmal im Monat bin ich hier, meine Frau ist Berlinerin, und wir haben hier eine Wohnung. Das kulturelle und das politische Europa sind für mich allerdings zwei verschiedene Dinge: Während ich ein großer Fan des kulturellen Miteinanders bin, denke ich, dass wir ohne die EU-Bürokratie auch ganz prima miteinander zurechtkämen.“

Steve Redmond, 44, organisiert seit 2006 die British Music Week in Berlin. Er pendelt zwischen Berlin und London

Gitte Haenning

„Berlin ist freier als jede andere Stadt und der Mittelpunkt Europas. Besonders spannend finde ich den Prozess, den Berlin auf seinem Weg zu einer internationalen Metropole durchlebt. Seit 1994 wohne ich schon an der Spree. Insgesamt bin ich schon länger in Deutschland, als ich je in Dänemark gelebt habe. Ich kann aber wenig mit der Frage anfangen, ob ich mich irgendwie „europäisch“ fühle. Ich reise eben gerne und genieße dabei jedes Land und seine Besonderheiten. Gerade auch in Europa, das durch seine Geschichte eine vielfältigere Kultur hat als andere Kontinente.“

Die Schlagersängerin Gitte Haenning, 60, stammt aus Dänemark

Solange Olszewska

„Europa ist mein Zuhause. Seit 26 Jahren lebe ich in Berlin, eine fantastische Stadt mit so vielen Nationen. Sie ist Vorbild für Europa, zeigt, dass es auf der zwischenmenschlichen und wirtschaftlichen Ebene funktioniert. Wir alle sind Europa, trotz und wegen all der Unterschiede. Gerade die machen das Zusammenleben so interessant – zum Beispiel die Akzente. Meiner ist und bleibt polnisch, und das ist gut so. Denn es nicht wichtig, wie ich etwas, sondern was ich sage.

Die Polin Solange Olszewska, 56 Jahre alt, ist Vize-Chefin des Busunternehmens Solaris

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