Überlebenstechnik

Martin Walser wird heute 80 – Anlass für einen Blick auf die Rückkehr des Krieges in den späten Büchern der deutschen Autoren seiner Generation

Das beliebte Grass- oder Walser-Bashing bleibt allzu oft intellektuell dürftig

VON ALEXANDER CAMMANN

Am 1. Mai 1945 erhielt der kleine Funktrupp im Hauptquartier von Großadmiral Dönitz im holsteinischen Plön ein Telegramm von Joseph Goebbels aus dem Führerbunker: „Führer gestern 15.30 verschieden.“ Tags zuvor war Dönitz von Hitler zu seinem Nachfolger erkoren worden; die Nachrichtensoldaten hatten den Dank des Admirals in den Berliner Bunker gefunkt: „Mein Führer! Meine Treue zu Ihnen wird unabdingbar sein.“ Einer von Dönitz’ Funkern war der 20-jährige Obergefreite Siegfried Unseld.

Für anders geartete Kommunikationsleistungen wurde der Verleger Siegfried Unseld 28 Jahre später gewürdigt: Der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner, Sohn einer jüdischen Familie aus Wien, prägte 1973 die Formel von der „Suhrkamp-Kultur“, die die intellektuelle Verknüpfungsarbeit des Verlegers rühmend auf den Begriff brachte. Denn der einstige Obergefreite hatte den Suhrkamp Verlag für Jahrzehnte zur prägenden Kulturinstitution der Bundesrepublik gemacht, ausdrücklich unter umfassender Einbeziehung jüdischer Denktraditionen.

Diese Konstellation zweier Momente im Leben des 2002 verstorbenen großen Kommunikators Unseld veranschaulicht noch einmal den weiten Weg, den die Bundesrepublik und deren geistige Protagonisten nach 1945 zurückgelegt haben. Eine Erfolgsgeschichte, geboren in Stahlgewittern: Wer nach den Gründen für die scheinbar unendliche Präsenz unserer intellektuellen Väter oder Großväter fragt, stößt unweigerlich auf die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs.

Siegfried Unseld berichtete des Öfteren von seinen Kriegserlebnissen als „ohnmächtiger Handlanger der Mächtigen“ (Unseld). In seinen persönlichen existenziellen Abgrund hatte er als Soldat an der Ostfront im Mai 1944 geschaut – eine Episode, die später zum Kernbestand des Unseld-Mythos werden sollte: Beim Rückzug der Wehrmacht von der Krim flüchtete der 19-Jährige vor der Roten Armee ins Schwarze Meer, schwamm um sein Leben, bis er nach Stunden von einem deutschen Schiff aufgegriffen wurde. Der mit ihm schwimmende schwächere Kamerad, der ihn vergeblich um Hilfe rief, ertrank.

Nebenbei bemerkt: Vor diesem Hintergrund überrascht der ansonsten verständliche Furor von Louis Begley, mit dem dieser im vergangenen August Günter Grass nach dessen SS-Beichte attackierte. Der 1933 geborene Suhrkamp-Autor Begley, der als Kind in Polen dem Holocaust entging, berichtete aus diesem Anlass von seiner Lebensregel, „Deutschen aus dem Weg zu gehen, die alt genug waren, im Zweiten Weltkrieg Waffen zu tragen. Auf jeden Fall versuchte ich, ihnen nicht die Hand zu schütteln“, vor allem nicht Ostfrontveteranen. Gab es keinen Handschlag mit seinem deutschen Verleger Unseld?

Schon sind wir mittendrin in den über sechzig Jahre alten Minenfeldern, deren Spätzünder in den letzten Jahren erstaunlich oft explodierten und zu heftigen Kontroversen führten. Doch die Grauzone der Vergangenheit erfüllt selten die Sehnsucht der Nachgeborenen nach Eindeutigkeit, wie diese Szenen illustrieren.

Das politisch-moralische Terrain ist unwegsam; der Sinn für die Ambivalenzen von Erinnerung wird oft durch Urteilsfreudigkeit verbaut. Im vergangenen Jahrzehnt waren es vor allem die alten Schriftsteller der Kriegsgeneration, die diesen ambivalenten Blick auf die Gegenwart der deutschen Vergangenheit noch einmal mit ihren Büchern und in Debatten ermöglichten: Dieter Wellershoff, geboren 1925, Walter Kempowski, geboren 1929, der im Oktober 80 werdende Günter Grass sowie sein Jahrgangsgenosse Martin Walser, der heute seinen 80. Geburtstag feiert.

Dabei erleben wir im Moment ein seltsames Schauspiel: Bedeutungsverlust und lauter Nachhall einstiger Wirkmächtigkeit gehen Hand in Hand. Längst geben literarisch jüngere Autorengenerationen den Ton an; ihre preisgekrönten Bücher und schönen Gesichter kennt das Publikum mittlerweile bestens. „Grass“ und „Walser“ hingegen sind bloße Reizvokabeln im Literaturbetrieb: Die Rezeptionshaltung schwankt zwischen Augenrollen, Kopfschütteln und Aufstöhnen. Seit vielen Jahren sind beide beliebte Glossenfiguren und Ressentimentobjekte, nicht nur von Schülern, die in Deutsch-Leistungskursen von sozialdemokratischen Lehrern mit Grass gequält wurden.

Vieles ist tatsächlich immer wieder peinlich an diesen beiden Öffentlichkeitsjunkies: Der soeben erschienene Gedichtband „Dummer August“ zum Beispiel, in dem der verletzte Grass die Diskussion um seine SS-Beichte poetisch vor aller Augen verarbeiten will, ist eines Nobelpreisträgers schlicht unwürdig. Und der zeitlebens kommunikationsfreudige Walser wirkte ebenfalls zuletzt recht skurril: in den Internetkurzfilmchen, in denen er unbedingt seine rückblickende Sicht auf die Skandale um seine Paulskirche-Rede und seinen Roman „Tod eines Kritikers“ darbieten muss.

Dennoch: Das beliebte Grass- oder Walser-Bashing bleibt allzu oft intellektuell eher dürftig und zeugt in seiner Ritualisierung von manchen Identitätsschwächen. Interessanter ist die Frage, welche Überlebenstechnik den Schriftstellern aus der Kriegsgeneration half, in der jüngsten, noch nicht von Literaturhistorikern kanonisierten Zeit ihr doch schon vorhergesagtes Verschwinden hinauszuzögern.

Der damals 31-jährige FAZ-Literaturchef Frank Schirrmacher nahm 1990 am Vorabend der Wiedervereinigung „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“: „Nicht heute vielleicht, aber morgen.“ Es dauerte dann doch noch einmal siebzehn Jahre. Die Ursache für dieses erstaunlich zähe Nachleben lag in der erfolgreichen Ausweitung der literarischen Kampfzone, die die Schriftsteller der Kriegsgeneration seit den Neunzigerjahren betrieben. Sie hätten bis dahin identitätsstiftende bundesrepublikanische Lebensläufe geschaffen, unter Ausblendung der Vorgeschichten, die allenfalls aus der Kinderperspektive Oskar Matzeraths in Grass’ „Blechtrommel“ erzählt worden seien, so lautete damals Schirrmachers Kritik.

Nunmehr jedoch stürzten sich die alternden Autoren gleichsam als Phalanx auf das Feld der Vergangenheit, in überraschender literarisch-autobiografischer Produktivität: Günter Grass („Ein weites Feld“, „Mein Jahrhundert“, „Im Krebsgang“ bis zu „Beim Häuten der Zwiebel“), Martin Walser mit seinem Kindheitsroman „Ein springender Brunnen“, der von Hermann Göring 1944 an die ostpreußische Front geschickte Dieter Wellershoff mit seiner Kriegserinnerung „Der Ernstfall“. Dem besessensten Erinnerer unter ihnen gelang gar eine triumphale Renaissance im Literaturbetrieb: Walter Kempowski erzielte große Erfolge mit seinem vielbändigen „Echolot“-Projekt, den Auszügen aus zahllosen Tagebüchern, die während des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurden. Junge Fans wie Lesebühnenautor Falko Hennig oder Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre bekannten sich zu ihm. Zuletzt legte Kempowski mit seinem hochgelobten Roman „Alles umsonst“ noch seine Version des Flüchtlingsdramas 1945 vor.

Die Ergebnisse dieser generationellen Rückschau sind unterschiedlich und höchst umstritten, literarisch wie politisch-moralisch, wie die Kämpfe von, mit und gegen Martin Walser bewiesen. Man sollte unabhängig davon die Varianten von Erinnerungsarbeit – präziser Kempowski versus diffuser Grass – nicht gegeneinander ausspielen: Beides sind zunächst einmal künstlerisch legitime Formen. Die Macht der Geschichte inklusive der heftigen öffentlichen Debatten wirkte seit 1990 als Frischzellenkur für die Alten. Insofern war deren oft bizarre Abschiedstournee zugleich verblüffende Verlängerung und späte Vollendung der bundesrepublikanischen Literatur. Und die bald 80-jährigen Autoren lieferten den Nachgeborenen ihr Vermächtnis.

Am 28. April 1992 notierte Walter Kempowski in sein Tagebuch: „Es kommt mir so vor, als müsse ich mit dem ‚Echolot‘ Schuld abtragen. Ich habe mal ein Klassenfoto gesehen, auf dem waren die später dann Gefallenen mit Bleistift eingekreist. Das wirkte so, als ob man sie für den Tod ausgewählt hätte.“ In den Jahrgängen 1924, 1925 und 1926 fielen 40 Prozent der zur Wehrmacht eingezogenen Männer – die eigentliche Schlüsselerfahrung jener Generation. Die heute 80-Jährigen haben versucht, in ihrem literarisch-autobiografischen Alterswerk diese Schuld des Überlebens zu verarbeiten, verblutend „auf der Intensivstation Erinnerung“, wie der nicht gerade anämische Walser jüngst diesen Opfergang bedichten zu müssen meinte. Weltliteratur ist dabei zwar nicht entstanden. Jedoch werden künftige Lektüren dieser Bücher wahrscheinlich gnädiger als heute ausfallen, sich weniger an ästhetischen Kriterien orientieren. Denn die Klassiker der bundesrepublikanischen Literatur umweht trotz mancher blinder Flecke ein authentischer Hauch von jenem schwer verständlichen deutschen 20. Jahrhundert, das uns so schnell nicht aus seinen Fängen lässt. Das zwiespältige Privileg jener fast schon exotischen Reize besitzen allerdings nur die Alten: Von deren Narben werden die jungen schönen Gesichter der unschuldigen Gegenwartsliteratur verschont bleiben.