Die lange Nacht der Vernunft bricht an

WERKSCHAU Seine Filme zu sehen heißt, Lebenszeit mit Mensch und Tier zu teilen: Im Arsenal-Kino startet eine Retrospektive des Regisseurs Albert Serra. Besonders interessieren den Spanier historisch-mythische Stoffe

Isst Casanova einen Granatapfel, zieht sich die Szene locker über zehn Minuten

VON LUKAS FOERSTER

Hält man sich nur an die Inhaltsangabe, könnte man „Història de la meva mort“ für einen Horror- oder Sexfilm der trashigsten Sorte halten: Casanova trifft in den düsteren Karpaten auf Dracula und konkurriert mit ihm, bis zum erwartbaren blutigen Ende, um die Gunst einiger Bauerntöchter.

Tatsächlich stellt sich der – wunderschön fotografierte – Film, mit dem am Freitag im Arsenal eine Retrospektive der Arbeiten des spanischen Regisseurs Albert Serra eröffnet wird, als eine hypnotische, kluge und immer wieder leise komische historisch-philosophische Meditation heraus. Um das immer schon bedrohte Erbe von Aufklärung und Rationalismus geht es, um den Zusammenbruch der ständischen Gesellschaftsordnung und um die Frage, ob kühler, ironischer Rationalismus Scheiße in Gold zu verwandeln vermag.

Doch dafür muss die Scheiße erst einmal produziert werden. In einer der eindrücklichsten Szenen filmt Serra seinen Casanova (umwerfend: Vicenç Altaió, im echten Leben ein katalanischer Dichter) beim Toilettengang. Ein maskenartig gepudertes Gesicht in Großaufnahme, die Züge sind zunächst in Anstrengung verzerrt, entgleisen dann gleich mehrmals in bizarren Anfällen von Hysterie.

Ein albern auflachender Casanova auf dem Klo. Das passt sich perfekt ein in das Kino Serras, eines Regisseurs, dessen Filme auf internationalen Festivals heiß diskutiert werden, aber für gewöhnlich nicht die deutschen Kinosäle erreichen. Sein bisheriges Hauptwerk – das Arsenal zeigt außerdem eine Handvoll anderer Arbeiten, die hauptsächlich im Kontext der Kunstszene entstanden sind – bilden drei eigenwillige Relektüren weltbekannter literarischer beziehungsweise historisch-mythischer Stoffe: „Honor de cavallería“ ist eine Neufassung des Don-Quixote-Romans, die alle Windmühlenkämpfe beiseite lässt und sich ganz auf die Beziehung zwischen der Hauptfigur und seinem Diener Sancho Pansa konzentriert. Der besonders minimalistisch gestaltete „El cant dels ocells“ erzählt die Weihnachtsgeschichte aus der Perspektive der Heiligen Drei Könige – die sich allerdings als drei Slacker vor dem Herrn entpuppen, die ihre Berufung immer wieder links liegen lassen und stattdessen in lieblichen Wäldern Rast machen oder in glasklaren Bergseen baden gehen.

Und jetzt ein Mythen-Mash-up: Die erste Hälfte von „Història de la meva mort“, dem bisher dichtesten, komplexesten Film des Regisseurs, mit dem er letztes Jahr beim Internationalen Filmfestival von Locarno den Hauptpreis gewann, gehört Casanova, der zunächst auf seinem französischen Anwesen abhängt, seine Umgebung mit Anekdoten und libert(in)ären Lebensweisheiten bei Laune hält. Das erwähnte hohle, fast zwanghafte, dem sinnlichen Genuss auf seltsame Art äußerlich bleibende Lachen, in das er bei jeder Gelegenheit ausbricht, ob er nun isst, liest oder mit einem Dienstmädchen schläft, vergeht ihm schnell, wenn er sich gen Osten aufmacht.

Dracula – ganz Betonfigur und eisgrauer Rauschebart – ist aus einem anderem Holz geschnitzt. Er beißt zu, ohne vorher zu fragen oder gar große Sprüche zu klopfen, verzieht sonst kaum eine Mine. Die sommerlich-sonnige Stimmung weicht dunkelster, sedierter Ambient-Finsternis (die kongenial untermalt wird von Marc Verdaguers dumpf dröhnender Filmmusik). Die lange Nacht der Vernunft bricht an.

Serra inszeniert seine Filme mit einer Seelenruhe, die im Kino der Gegenwart ihresgleichen sucht. Die Körperlichkeit seiner – größtenteils nichtprofessionellen – Darsteller ist Serra allemal wichtiger als die stets nur angedeutete Erzählung. Wenn Casanova einen Granatapfel isst, zieht sich die entsprechende Szene samt des genießerischen Schmatzens des Lebemanns locker über zehn Minuten.

Einen Film wie „Història de la meva mort“ anzuschauen heißt weniger, eine Geschichte zu verfolgen, als ein wenig Lebenszeit zu teilen mit ein paar Menschen, gelegentlich auch mit Tieren. Anders ausgedrückt: Einen Film wie „Història de la meva mort“ anzuschauen heißt, in der Welt zu sein.

■ Ab heute bis zum 11. September im Kino Arsenal