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Archiv-Artikel

Wut tanzt auf dem Tisch

Rolf Dieter Brinkmann und das Theater der Sprachkaskaden: Am Schauspielhaus Köln inszeniert Martin Wuttke den Nachlass des Dichters „Erkundungen des Gefühls …“ wie ein Stück Postdramatik

Immer wieder streifen die Schauspieler mit ausgeteilten Maschinengewehren an nahen Einkaufspassagen vorbei

VON DOROTHEA MARCUS

Kann man heute noch schreiben, Theater spielen, Kunst machen? Rolf Dieter Brinkmann hat im Laufe seines Lebens immer stärker daran gezweifelt und sich schließlich ganz auf Tonbandaufzeichnungen verlegt. „Von einem bestimmten Punkt an wird das Sprechen mörderisch“, steht etwa in den ausufernden Aufzeichnungen, die als „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“ posthum erschienen sind: 400 Seiten unfertige, scheinbar unkontrolliert hingeschriebene Tagebuchnotizen, abgebrochene Romananfänge, Lebensfetzen.

Das ist ein wüster dreispaltiger Textstrom, in dem Brinkmann seine Wut aufs banale Leben sorgsam und besessen in die Schreibmaschine hackte und mit Fotos, Zeitungsausschnitten und Katalogbildern schmückte. Heute, mit dem Schreiben am Computer, würde das keiner mehr so herstellen – allein die Unterstreichung des Worts „Gefühl“ im Titel erscheint fast obszön zeitraubend (und ist im taz-System schon nicht mehr darstellbar).

Ein früher Popliterat – unter diesem Etikett wird Brinkmann oft gehandelt. Doch die damit verbundene narzisstische Pose war Brinkmann zutiefst fremd. Was ihn als inspirierenden Autor gerade wieder entdecken lässt, ist wohl eher die so deutlich spürbare Überlebensnotwendigkeit seiner Sätze, die Art, wie sich Brinkmann aus der allgemeinen Sprachentwertung mit Sprache zu retten versuchte.

Das kann selbst der eingefleischteste Brinkmann-Fan kaum am Stück lesen, geschweige denn aufs Theater bringen. Auch Regisseur Martin Wuttke beschränkt sich für seine Uraufführung am Kölner Schauspielhaus auf die ersten 180 Seiten des Buchs, die zwischen 27. 9. und 1. 11. 1971 entstanden sind. Man vergisst es leicht: Wuttke, obwohl seit Jahrzehnten das Zentrum vieler Stücke an Volksbühne Berlin und dem Berliner Ensemble, ist ein Kind des Ruhrgebiets. Brinkmann hat ihn, erzählt er, begleitet, seit er mit 16 Jahren von der Schule flog – sonst hätte er wohl auch nicht so ein inniges Verhältnis zum Autor aus Köln, der wie kein anderer westdeutsche Nachkriegsmuffigkeit beschrieb.

Als hätte sich die Kölner Schlosserei unversehens in den Berliner Prater verwandelt, ist die Bühne von Nina von Mechow ein Laufsteg mit kreisendem Dancing Table und eingebauter Bar, Videoleinwänden und Pappmachéburgen. Die Zuschauer sitzen auf Stühlen drumherum und kriegen dann und wann Wodka serviert. Innen und außen verschwimmen, das Live-Video ist auf die Kölner Innenstadt gerichtet, immer wieder treten die Schauspieler aus dem Bild und wieder herein, streifen mit verschwenderisch ausgeteilten Maschinengewehren zeternd an theaternahen Einkaufspassagen vorbei. „Doch zurück zu der Stelle, als ich das Bild verließ“, sagt der aus Berlin mitgebrachte Volker Spengler aus der Garderobe in die Live-Kamera, als hätte Brinkmann Castorf-Collagen erfunden.

Assoziativ hat Wuttke Passagen ausgewählt, Textfragmente aus dem Wortstrom gerissen, die er sechs Schauspieler sprechen, schreien und flüstern lässt, als seien es Theorielawinen von René Pollesch. Spengler bildet mit dem Kölner Urgestein Traute Hoess das erdenschwere Zentrum der Inszenierung, ein zärtliches, graziöses und bulliges Paar, das sich eingespielt Satzfetzen zuwirft und dabei Komik und Kopfrasen entstehen lässt. „Gib den Leuten das große Gefühl so billig wie möglich, so kriegst du sie klein.“ „Rebellion bedeutet, gegen Reduzierung zu sein.“ Es ist eine Bewusstseinsshow, die sich in Geschichten von Geld, Sex und Tod verheddert und von ihrem Verschwinden in der „Verbalisierungsmaschinerie“ der reizüberfluteten Gegenwart handelt.

Die Rahmenhandlung besteht grob in der Pseudostory von „Freddie“, die sich in den „Erkundungen“ etwa auf Seite 150 befindet. Freddie, von Sébastian Jacobi als schneidiger Jungtransvestit in wechselnden Glitzerbodys gespielt, surft durch Zeiten und Realitätsschichten und erwürgt schließlich, zwei Stunden später, eine Frau im Hauseingang. Aber eigentlich ist egal, wer wen wo und was spielt, es passiert dennoch mit zunehmender, faszinierender Energie.

Jeder hat hier seine großen, wütenden Auftritte: Vanessa Stern als verlorene Bardame in Lockenperücke, Monstertatzen und Abendkleid, Sandra Fehner als coole, wuchtige Furie mit Ray-Ban-Sonnenbrille, Olivia Gräser als grazile Domina mit Spitzenslip – Brinkmanns Blick auf die Frauen war schwer pornografisch.

Welche Fetzen fischt man, um mit Brinkmann zu sprechen, aus den Wortkloaken der Gegenwart, um sie auszustellen? Der zweistündige Abend dreht sich um den verzweifelten Vorgang dieser eigentlich unmöglichen Auswahl. Die einzige Irritation bleibt, Brinkmanns Worte nicht von ihm selbst, sondern aus dem Mund von Schauspielern zu hören.

Man könnte den Abend für das Plagiat eines typischen Pollesch halten: ähnlich sind die theoretischen Paradoxien, das rasende Sprechen, der Gestus aus Wut und dem „komischen Gestank der Melancholie“. Doch eigentlich zeigt sich hier eher, dass Pollesch ohne Brinkmann sein Theater von heute wohl nicht hätte entwickeln können.