: Ein Gast auf dieser Erde
LOKAL Das „Gesicht der Zeit“ wollte Joseph Roth zeichnen, er machte es auch in Berlin. Zum 120. Geburtstag des österreichischen Autors ein Besuch in der Joseph-Roth-Diele
■ Der österreichische Journalist und Schriftsteller („Hiob“, „Radetzkymarsch“) Joseph Roth wurde vor 120 Jahren, am 2. September 1894, in Brody in Galizien geboren, das damals Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ist. 1920 kommt Roth nach Berlin, hier ist er viel für die Frankfurter Zeitung tätig. 1925 verlässt Roth die Stadt Richtung Paris, weiterhin als Feuilletonkorrespondent der Frankfurter Zeitung. Am 27. Mai 1939 stirbt er in Paris.
■ In Berlin erinnert man sich an den Autor am besten in der Joseph-Roth-Diele in der Potsdamer Straße 75 – im Haus nebenan wohnte Roth während seiner Berliner Zeit. Das literarisch inspirierte Lokal hat montags bis freitags ab 10 Uhr geöffnet.
VON PHILIPP SAWALLISCH
Die Potsdamer Straße 75 ist die einzig bekannte Adresse aus Joseph Roths Zeit in Berlin. Man könnte hier, wo der Schriftsteller und Journalist gewohnt hat, eine Gedenktafel erwarten, die an ihn erinnert. Dass sie fehlt, ist nicht schlimm. Denn nebenan gibt es die Joseph-Roth-Diele. Das Lokal würdigt Roth stärker als jedes Schild und vielleicht sogar ein Museum. 2002 eröffnete Caroline Mentz zusammen mit Liebhard Zimmer, Grit und Dieter Funk die Joseph-Roth-Diele und schloss somit die Gedächtnislücke der Stadt.
Wie in Österreich, wo Joseph Roth 1894 geboren wurde, bringt man das Bier in Porzellankrügen und serviert es auf rot-weiß karierten Tischdecken. Der Blick wandert von dem langgezogenen Holztresen hoch zu den Zitaten an der Wand. Typische Roth-Sätze in leichter und dennoch funkelnder Sprache, im Ton eines modernen Märchenerzählers. Das klingt dann so: „Sie sang oft ukrainische Lieder, denn sie war unglücklich. Und die Armen sind es, die bei uns zu Hause singen, nicht die Glücklichen wie in westlichen Ländern. Deshalb sind die östlichen Lieder schöner, und wer ein Herz hat und sie hört, ist nahe dem Weinen.“
Ein Museum mit Tresen
Die Joseph-Roth-Diele ist vieles in einem. Ein Restaurant, in dem Kellner Schweinebraten und Gulasch bringen, ein Beisl, wie Österreicher Lokale nennen, in denen man von Glas zu Glas vertraulicher wird, ein Wiener Kaffeehaus, in dem man dank fehlender Musik die eigenen Gedanken im Kopf hört, vor allem aber ist sie ein Museum mit Tresen.
Dementsprechend kann man – wie Roth es gerne tat – mit einem starken Getränk in Reichweite eine Zeitung aus der breiten Auslage lesen, in Roths Romanen blättern, die komplett und stapelweise präsentiert sind, oder man lässt seinen Blick über die Bilder an den holzverkleideten Wänden schweifen und taucht so ein in das Leben des Autors.
Caroline Mentz, die Wirtin, beschreibt, wie es sich anfühlt, wenn man täglich von den Zeugnissen eines fremden Lebens umgeben ist und die Fremdheit somit der Nähe weicht. Wegen ihrer Wortwahl muss sie dabei ein wenig lachen: „Ich kann es gar nicht anders sagen. Es ist so, als würde sein Geist hier durch die Räume schweben.“ In ihrem Ton schwingt auch Rührung mit. „Das Lokal ist mein Leben, und daher ist Joseph Roth ein Teil davon. Wenn man sein Lebenswerk jemandem widmet, ist das schon eine starke Verbindung, die da entsteht.“
Was sie rührt, ist das kurze und tragische Leben von Joseph Roth. „Dass jemand, der so weitsichtig war und da in der Ferne immer nur schwarze Wolken auf sich zukommen sah, zur Flasche greift, kann ich sogar verstehen“, sagt sie. Roths Geschichte ist aber – wie auch Mentz betont – nicht die Geschichte eines Trinkers. Es ist die Geschichte eines Schriftstellers, der mit seinen Romanen eine eigene Welt schuf, als die reale Welt bereit war, in Flammen aufzugehen. Die eines Zeitzeugen, der an der Zeit zugrunde ging, eines Heimatlosen, der mehrfach emigrierte, bis er schließlich „Schluck für Schluck Selbstmord beging“, wie Jörg Fauser Roths letztlich durch eine Lungenentzündung erfolgten Tod 1939 beschreibt.
Über den Bildern in der Diele zeichnet eine Zeitleiste die Stationen dieses Leben nach. 1920: Der 26-jährige Roth kehrt Wien und damit der österreichischen Wirtschaftskrise den Rücken und geht nach Berlin, um als Journalist sein Geld zu verdienen.
Berlin ist zu dieser Zeit eine Stadt, die unter ständigen Erschütterungen vibriert. Aufstände von links, Putschversuche von rechts, Inflation und Streiks, Revolutionen in Kunst und Kultur machen Berlin zum Erlebnis. Max Tau, ein Freund Roths, geht in seinen Erinnerungen noch weiter: „In Berlin sahen wir damals den Mittelpunkt der Erde.“
Für einen jungen, ehrgeizigen Journalisten ist das der rechte Ort zur rechten Zeit. Roth wird schnell festes Mitglied im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, der Vorläuferin der FAZ. Unter Feuilleton versteht man damals nicht den Kulturteil mit seinen Besprechungen des Theaters und der Literatur, sondern den Platz für Reportagen, in denen man das gesellschaftliche Klima einfängt. Um es mit Roth zu sagen, muss ein Journalist hier „das Gesicht der Zeit“ zeichnen.
Dafür geht er dorthin, wo es laut und eng, dreckig und nicht selten gefährlich ist. Zum Beispiel ins Scheunenviertel rund um die Volksbühne. Fliegende Börsen verstopfen zu der Zeit die Straßen: Flohmärkte vor den Hauseingängen mit zerlesenen Bibeln, Klamottenkisten und allerlei Geflügel. In der Luft liegt die Angst vor der Polizei. Sie rückt beinahe täglich an, um Jagd auf Schwarzhändler, Prostituierte und illegale Emigranten zu machen, wenn sie sich nicht gerade Straßenschlachten mit Kommunisten liefert, die das Viertel für ihre Aufmärsche nutzen.
Mittendrin im Leben
Mittendrin Roth, den Hut tief im Nacken, in der einen Hand seinen Block, in der anderen die obligatorische Zigarette. Tage und Nächte verbringt er in den Schieberkneipen, porträtiert die kleinen Herzöge der Unterwelt, die Nutten, aber vor allem die Heimatlosen. Vornehmlich Juden, die vor Pogromen aus Russland geflohen sind und auf ihrem Weg nach Amerika über Hamburg in Berlin stecken bleiben.
Neben den Kneipen sucht Roth die Asyle auf, in denen die Juden aus dem Osten zuerst unterkommen. In eine dieser Flüchtlingsherbergen quartiert er sich für mehrere Nächte ein. Er sieht Männer, „geradewegs aus der Kriegsgefangenschaft gekommen. In ihren Augen ist tausendjähriges Leid zu sehen. Frauen sind da. Sie tragen ihre Kinder auf dem Rücken wie schmutzige Wäschebeutel. Und Kinder, die auf krummen Beinen durch eine rachitische Welt kriechen.“
Roths Interesse und Empathie für die Heimatlosen kommt nicht von ungefähr. Auch wenn er erfolgreich ist und seine eigene jüdische Identität ihm nicht viel bedeutet, verbindet ihn mit den Gestrandeten das Gefühl, immer auf dem Sprung zu sein. Er ist ein Mann, der einen gepackten Koffer unter dem Bett hat. Seine Hotels liegen dicht am Bahnhof, denn „man soll nie zu weit von der Stelle fortgehen, wo es hinausgeht“. Nach langem Training ist seine Handschrift so klein, dass er kaum Papier mit sich herumtragen muss. Dabei liegen seine wirklichen Exiljahre noch vor ihm. Aber wie Caroline Mentz es sagt: „Er war ein weitsichtiger Mensch.“
Die tägliche Dosis Roth
CAROLINE MENTZ VON DER JOSEPH-ROTH-DIELE ÜBER IHREN HAUSHEILIGEN
Sie selbst spricht täglich über Roth. Zum einen, weil seine Gedanken und sein Schicksal sie immer noch faszinieren, zum anderen, weil ihre Gäste sie auf Roth ansprechen. „Teilweise kommen sie von überall her und sehr gezielt“, sagt sie, „um den Ort zu sehen, der ihrem Lieblingsschriftsteller gewidmet ist. Zum Teil lernen sie ihn aber auch hier erst kennen und wollen mehr erfahren.“
Solch einer Erstbegegnung kann man sich in der Joseph-Roth-Diele kaum entziehen. Am Nebentisch sprechen ein Mann und eine Frau in den Fünfzigern über den Autor. Eigentlich waren sie gekommen, um einander kennenzulernen. Es ist ihr erstes Rendezvous. Sollten noch welche folgen, wird Roth in ihrer gemeinsamen Geschichte einen wichtigen Platz einnehmen. An einem anderen Tisch blättert ein jüngerer Mann bei Flammkuchen und Bier in Roths Roman „Tarabas“. Der Untertitel: „Ein Gast auf dieser Erde“.
Eine Formulierung, die der Titel für eine Roth-Biografie sein könnte. Während er Wien noch freiwillig verließ, ist sein Umzug nach Paris schon eine vorgezogene Emigration. 1925: Der Sozialdemokrat und Reichspräsident Friedrich Ebert stirbt. Um das Amt des neuen Staatsoberhaupts bewirbt sich auch der Monarchist und ehemalige Heeresleiter Paul von Hindenburg. Hindenburg macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die Republik. Als er einige Jahre später Hitler zum Reichskanzler ernennt, wird er konsequenterweise zu einem ihrer Totengräber.
Am Tag der Wahl äußert Roth gegenüber einem Freund: „Wenn es Hindenburg wird, reise ich ab. Ich weiß, was dieser Wahl folgen wird.“ Es gibt zu dieser Zeit allerhand dunkle Vorzeichen, die auf die kommende Entwicklung Deutschlands und auch Europas hindeuten. Bereits 1923 kam es zu einem Pogrom im Scheunenviertel, nachdem rechte Agitatoren Erwerbslose vor dem Arbeitsamt in der Alexanderstraße aufstachelten. Armen Juden riss man dabei die Kleider vom Leib in der irrigen Annahme, sie versteckten darunter Devisen. In Wien hatte Roth gesehen, wie der langjährige Bürgermeister der Stadt, Karl Lueger, seine Karriere mit der Hetze gegen die jüdische Bevölkerung vorantrieb.
Roth verlässt wie angekündigt Berlin nach der Wahl Hindenburgs. Er zieht weiter nach Paris: eine Flucht vor dem sich steigernden nationalistischen Wahn. Spätestens in den dreißiger Jahren schwindet bei Roth alle Hoffnung. Die Suche nach einer Heimat hat er aufgegeben und auch den Glauben daran, die Welt würde sich noch eines Besseren besinnen. Mit der Katastrophe vor Augen zieht er sich zurück in den Alkohol und seine von ihm entworfenen Welten.
Aus dieser Zeit ist eine Zeichnung, die in der Joseph-Roth-Diele am Tresen hängt. Roths Gesicht ist vom Alkohol aufgedunsen. Den Schnurrbart trägt er im Stil eines Kavaliers aus der k. u. k. Zeit. Eine Strähne liegt etwas wirr über seiner Stirn, und aus seinen Augen spricht das Leid, das er 15 Jahre zuvor in den Augen der Heimatlosen im Scheunenviertel gesehen hat.
Es ist diese Zeichnung, auf die man blickt, wenn man die Joseph-Roth-Diele verlässt und sich noch einmal umdreht, um Caroline Mentz zu verabschieden, die die Gläser poliert. Von der Melancholie des späten Roth ist bei den letzten Gästen nichts zu spüren. Sie wirken glücklich, als sie die Tür zur Potsdamer Straße öffnen. Der jüngere Mann hat das Buch gekauft, in dem er zuvor blätterte. Und die beiden vom Nebentisch werden sich wohl noch gemeinsam an ihr Rendezvous in der Joseph-Roth-Diele erinnern. Hand in Hand verlassen sie das Lokal.