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Archiv-Artikel

Schlimme Konsequenz

FILM Eine Spurensuche – „Fragmente einer Welt“ im Zeughauskino über das ausgelöschte jüdische Leben in Polen

Fragmente einer Welt

■ In der Reihe „Fragmente einer Welt – Jüdisches Leben im polnischen Film“ im Zeughauskino, Unter den Linden 2, sind vom heutigen Samstag bis Dienstag insgesamt sieben Filme zu sehen, darunter am Sonntag (16 Uhr) mit „Dybuk“ (1937) auch ein Beispiel des in den dreißiger Jahren florierenden jüdischen Kinos in Polen, das – wie auch die sonstige lebendige jüdische Kultur – von den Nazis ausgelöscht wurde.

■ Die vom Polnischen Institut initiierte Filmreihe findet im Rahmen der Jüdischen Kulturtage statt.

VON CAROLIN WEIDNER

Als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzt, weiß man noch nicht, wer gleich aus ihm steigen wird. Auf der Maschine ist die Aufschrift einer polnischen Fluggesellschaft zu lesen. Der Filmtitel erscheint: „Miejsce urodzenia“ – „Geburtsort“. Dann eine Autofahrt über eine Landstraße. Winterliches Glitzern, die Sonne schimmert zwischen den nackten Ästen. Ein kläffender Hund, die ersten Häuser einer Ortschaft. Und dann, endlich, ein Mann im Profil mit dichtem, schwarzem Schnauzbart. Es ist der Schriftsteller Henryk Grynberg, der nach Polen zurückgekehrt ist, um einige letzte Wahrheiten zu erfahren, über sich und seine Familie.

Im Auto sind die Scheiben beschlagen und Grynberg muss mit seinen Händen einige Male über das Glas wischen, um draußen etwas erkennen zu können. Eine Bewegung, die symbolisch für das steht, was ihn in den kommenden Tagen erwartet. Denn auch hier, in diesem Dorf, scheint sich ein Nebel über die Menschen gelegt zu haben. Ein Nebel, der zwar immer wieder Lücken lässt – und der, ehe man sich versieht, schon wieder zu einer dicken Suppe geworden ist. Grynberg bahnt sich seinen Weg durch diesen Nebel, und das Wischen über die Scheibe gleicht dem Stellen von Fragen, die Grynberg im Dorf an die Menschen richtet. Einige wissen Antwort. Andere nicht. Wollen nicht, können nicht, haben verdrängt.

Schmerzliche Erinnerung

„Ich erinnere mich“, das sind die ersten Worte in diesem herausragenden Dokumentarfilm „Miejsce urodzenia“ (1992) von Pawel Lozinski, der am heutigen Samstag im Zeughauskino im Rahmen der Filmreihe „Fragmente einer Welt – Jüdisches Leben im polnischen Film“ zu sehen ist. Er steht Henryk Grynberg zur Seite, wie er lange Jahre nach seiner Emigration in die USA wieder an den Ort zurückkehrt, von dem er Anfang der vierziger Jahre mit seiner Mutter geflohen war. Sein Vater wurde hier ermordet. Nun klopft er an Haustüren, aus welchen sehr alte Menschen treten, und fragt: „Können Sie sich an mich erinnern?“ Viele können. Henryk Grynberg scheint ein hübsches Kind gewesen zu sein, so wie sein Vater Abram, die Mutter, der kleine Bruder. Die Leute beginnen zu erzählen. Wie riskant es damals gewesen sei, einen Juden bei sich aufzunehmen, welche schlimmen Konsequenzen das hätte haben können. Es ist schmerzlich, den Mann auf seiner Reise in die Vergangenheit zu begleiten. Wo einige dankbar die Gelegenheit ergreifen, schon lange vor sich hin wesende Erinnerungen endlich aus sich herauslassen zu können, reagieren andere aggressiv und abweisend.

Das Motiv der Filmreihe, das Bergen von Fragmenten, tritt indessen in keinem Film deutlicher hervor als in Jolanta Dylewskas Film „Po-Lin. Okruchy pamieci“ („Po-Lin: Krümel der Erinnerung“, 2008). Ist es oft eine große Freude, auf einer Leinwand sehr altes Filmmaterial zu erkunden, vermischt sich dieses Gefühl hier mit der Beklemmung verursachenden Befürchtung, dass wohl die meisten hier gezeigten Menschen nach den Aufnahmen nur noch ein paar Jahre zu leben haben und ihnen allen die Vernichtungslager der Nazis drohen. Dass es den Film überhaupt gibt, ist dabei zum einen der emsigen Recherchearbeit der Regisseurin zu verdanken (zehn Jahre soll sie auf der Suche nach Material Archive durchkämmt haben), und zum anderen den Herstellern der Filmzeugnisse selbst: Amateurfilmer, die das jüdische Leben in polnischen Kleinstädten und Dörfern auf Schmalfilmkameras dokumentierten – bis in die frühen dreißiger Jahre hinein, dann brechen die Aufnahmen ab.

Dylewskas Film ist eine lange Aneinanderreihung dieser privaten Bilder, manchmal um erzählte Erinnerungen von Zeitzeugen ergänzt. Über den Archivaufnahmen von hageren Rabbis, Ladenfassaden, spielenden Kindern und Pferdewagen liegt derweil eine Stimme, die sich mit den Bildern stark vermischt: aus dem Off wird aus den Sifrei Zikaron gelesen, einer sich auf unzählige Bände belaufenden Erinnerungschronik, verfasst von Überlebenden des Holocausts.

In „Po-Lin“ sieht man Amateuraufnahmen, die das jüdische Leben in polnischen Dörfern dokumentieren – bis in die frühen dreißiger Jahre hinein, dann brechen die Aufnahmen ab

Buchhalter des Ghettos

Ein Zeugnis gänzlich anderer Kategorie ist hingegen das, was Dariusz Jablonski in „Fotoamator“ (1998) vorlegt. Auch hier sind es Archivaufnahmen, die den Kern des Films ausmachen. Und auch hier stammen sie von einem Amateur.

Dieser Amateur ist allerdings Walter Genewein, der Finanzbuchhalter des Ghettos von Łódź. Von 1939 bis 1944 hat der akkurate Bürokrat über 400 Farb-Dias mit dem damals neu entwickelten Diamaterial von Agfa aufgenommen, die ein fast idyllisches Bild vom Ghetto-Leben zeigen wollen. Briefe und Berichte, die das Ghetto in seiner ganzen pervers-sachlichen Maschinerie zwischen Güterproduktion und Sterbelisten zeigen, wechseln in Jablonskis Dokumentarfilm mit Beschwerden Geneweins an Agfa, die vor allem diverse Materialmängel zum Thema haben. Es fügt sich in „Fotoamator“ ein Bild, das letztlich ohne kaschierende Nebelschwaden dasteht. Das ekelhaft ist. Man sollte es nicht vergessen.