: Erste Hilfe für die Seele
NOTFALLPÄDAGOGIK In Krisengebieten leiden Kinder ganz besonders – die „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ leisten pädagogische Hilfe vor Ort, zuletzt im Nordirak
VON JAKOB GRASSER
„Wenn man sich die Schulter ausrenkt, muss man sofort zum Arzt, damit der einem die Schulter wieder einrenkt. Sonst entstehen Langzeitschäden. Ähnlich ist es bei der Notfallpädagogik“, so Lukas Mall. Mit einem Team der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ war der Pädagoge vor Kurzem im Nordirak unterwegs, um in Flüchtlingslagern Erste Hilfe für die Seele zu leisten. „Wenn wir Kindern sofort helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten, können wir vielleicht langfristige Traumafolgestörungen verhindern.“
Das Einsatzgebiet des Teams war die Provinz Dohuk in der Autonomen Region Kurdistan. Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen befinden sich dort bereits 700.000 Menschen, die in den letzten Monaten vor den nahenden islamistischen Milizen aus ihren Heimatorten fliehen mussten. Die Flüchtlingslager reichen längst nicht mehr aus, um den Flüchtlingsstrom aufzufangen. Als Notunterkünfte dienen so etwa mehr als 800 Schulen.
Einen eigenen Eindruck von der Gefahr und Zerstörung, die so viele Menschen aus ihren Heimatorten trieb, bekam das Team am 27. August. „Drei Raketen schlugen in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingslagers ein“, so Mall. Auch die in der Nähe stationierten Notfallpädagogen hatten Glück: „Bei dem Anschlag wurde ein Haus schwer beschädigt, aber niemand verletzt.“
Unter den Flüchtlingen befinden sich viele Kinder, die auf der Flucht Zeugen von viel schlimmerer Zerstörung wurden oder den Tod von Familienangehörigen miterleben mussten.
Notfallpädagogik ist in solchen Situationen zwar zunächst einmal psychologische Erste Hilfe – soll aber im Idealfall auch helfen, langfristige Belastungsstörungen zu vermeiden, die auch als „Post Traumatic Stress Disorder“ bezeichnet werden. Das ehrenamtliche Team der Erziehungskunst-Freunde setzte sich aus Kleinkindpädagoginnen, Erlebnispädagogen, einer Kunsttherapeutin und einem Heilpädagogen zusammen. Eine Ärztin und eine Rettungsassistentin begleiten das Team.
Doch mit welchen Mitteln kann man Kindern in überfüllten Flüchtlingslagern helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten? Als einen ersten Schritt helfe das Team den Kindern, ihre Erlebnisse auszudrücken, so Mall. Und zwar nicht mit Worten, sondern mit Bildern. Das Team gab einer Gruppe von etwa 30 Kindern Stift und Papier und ließ sie frei ohne jegliche Vorgaben malen, was sie bewegt. „Die eine Hälfte malte die Kämpfer, vor denen sie geflohen sind, die andere Hälfte malte die Gräber ihrer verstorbenen Verwandten“, erzählt Lukas Mall. Als nächsten Schritt ließen die Pädagogen die Kinder Formen malen, die beim seelischen Heilungsprozess helfen sollen. „Die liegende Acht ist eine dieser Formen, die einen Übergang zur Besserung darstellen. Die kleine Schlaufe führt zur Großen“, erklärt Mall einen der vielen Ansätze des Teams.
Eine weitere Methode der Notfallpädagogik soll die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes wieder aufrichten. Die Kinder erhalten die Aufgabe, mit einem Ball auf dem Kopf an einem Seil entlang zu gehen. „Das gelingt nur, wenn man den Kopf nicht hängen lässt“, so Mall.
Mit diesen und ähnlichen Gruppenaktivitäten wollen die Notfallpädagogen im Laufe ihres Einsatzes 600 bis 800 Kindern helfen. Die Größe der einzelnen Gruppen bei den Projekten schwankte laut Mall zwischen 30 und 80 Kindern.
Ein Erlebnis im Nordirak sticht für Lukas Mall aus dem Einsatz heraus. In einer Schule in Dohuk sei dem Team eine Mutter und ihre sieben Jahre alte Tochter begegnet. Die Mutter hatte die einheimischen Freiwilligen um Hilfe gebeten, weil sie nicht wusste, wie sie mit ihrem verstörten Kind umgehen sollte. Auf Ratschlag der Notfallpädagogen habe sich einer der freiwilligen Helfer mit der Tochter und der Mutter getroffen und mit dem Kind zusammen einer Gruppenaktivität aus der Ferne zugeschaut. Gemeinsam näherte sich das Trio den Kindern, die gemeinsam Stoffbälle filzen. Ganz langsam, bis schließlich die Tochter im Kreis der anderen saß. „Das anfangs verschlossene Kind hat sogar mit den anderen Kindern geklatscht und gesungen“, erinnert sich Mall.
Der nächste Einsatz von Notfallpädagogen der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners ist schon anvisiert – diesmal wird es in den Gazastreifen gehen.