Erst das Fressen, dann der Roman

GRUNDEINKOMMEN Götz Werner und Adrienne Goehler, die entschlossensten Streiter für den bedingungslosen Übergang vom Kapitalismus zur Kulturgesellschaft, trommelten im Berliner Radialsystem wieder einmal für ihre Lieblingsidee

Ohne Zwang zur Arbeit soll sich jeder kreativ verwirklichen

„Der Mensch unter Existenzdruck wird tierischer als ein Tier“, sagt Götz Werner entschieden. Einige im vollen Vortragssaal des Radialsystems am Ostbahnhof zucken bei Werners Worten zusammen. Als der Gründer des Drogerieriesen dm dann wenig später erzählt, dass Geld nichts wert sei – der Fünfziger, mit dem er dabei wedelt, heiße ja schließlich Geld-Schein –, wiederholt sich das Schauspiel.

Aber der erfolgreiche Unternehmer ist nicht nach Berlin gekommen, um sein Publikum zu erschrecken. Werner will etwas verkaufen. Das Produkt, das er unermüdlich anpreist, ist eine Idee, die sich bestenfalls „epidemisch“ im Land ausbreiten soll – die Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Kurz umrissen heißt sein Konzept: Jeder, der legal in Deutschland lebt, bekommt von Vater Staat monatlich 1.000 Euro, egal ob Mann, Frau oder Kind.

Gemeinsam mit der ehemaligen Berliner Kultursenatorin Adrienne Goehler hat Werner ein viel diskutiertes Buch geschrieben, das den knackigen Titel „1.000 Euro für jeden. Freiheit. Gleichheit. Grundeinkommen“ trägt.

Mit der propagierten Summe wollen sie einen gesellschaftlichen Wandel einleiten: weg von einer kapitalistischen, hin zu einer „Kulturgesellschaft“, die sich über eine modifizierte Mehrwertsteuer trägt und alle bisherigen Sozialleistungen und den Steuerapparat des Staates einstampft. Die „Kulturgesellschaft“ wird damit als reine Konsumgesellschaft definiert. Es gäbe keinen Zwang zur Arbeit mehr, dafür entstände für jeden die Möglichkeit, sich kreativ, den eigenen Neigungen entsprechend und vor allem „ohne Angst“ zu verwirklichen.

Fröhliche Dienstleistung

Erst kommt also das Fressen und dann der Roman oder das Start-up-Unternehmen oder die fröhliche Dienstleistung oder die durchschlagende Geschäftsidee. Das bedingungslose Grundeinkommen verheißt, so scheint es, eine geschlechtsunabhängige, menschenwürdige, faire und gerechte Zukunft, zumindest in der Theorie.

Auch wenn Werner der in Deutschland wohl populärste Streiter für das BGE ist, finden sich schon von dem 2006 verstorbenen US-Ökonomen Milton Friedman aus den 60er Jahren ähnliche Überlegungen. Auch das vom ehemaligen Thüringer Landesvater Dieter Althaus (CDU) angeregte Konzept des „solidarischen Bürgergelds“ geht in die gleiche Richtung. Kritiker sehen in dem Modell des BGEs kaum berechenbare ökonomische und soziale Risiken, gerade im Hinblick auf eine komplette Umstrukturierung des Arbeitsmarktes und -willens wie auch des Steuerrechts. Fragwürdig bleibt ebenso, ob der Großteil der Republik dank der 1.000-Euro-Sofortrente sich zu kreativen Innovationsmonstern entwickelt und das bisherige Konsumverhalten beibehält. Werner und Goehler jedenfalls sind vom eigenen Konzept sichtlich überzeugt und ernten gerade mit ihrer klaren Hartz-IV-Kritik und den Hinweisen auf die eklatanten Schwächen des deutschen Sozialsystems Applaus. Dabei sind die Rollen während des Vortrags klar verteilt: Der Milliardär Werner gibt den jovialen, verbal eloquenten Unternehmer, der viel von „Denkirrtümern“ und „Paradigmenwechseln“ im Hinblick auf Arbeit und Leistung spricht. Goehler, studierte Psychologin, gibt sich feinfühlig und vorsichtig und hantiert eher mit den Begriffen „Modellversuche“ und „interdisziplinäres Verfahren“.

Die wirklich konkreten Aspekte einer reellen finanziellen Umsetzung sowie eine schlüssige Prognose der zu erwartenden gesellschaftlichen Folgen bleiben schwammige Allgemeinplätze. Doch der Eindruck, dass es zumindest Werner generell um den Verkauf einer tollen Idee geht, trügt nicht, ordnet er doch zu Beginn an, das gedimmte Saallicht schnell wiederaufzudrehen: „Das sind ja alles unsere Kunden, die müssen wir sehen.“

JAN SCHEPER