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Archiv-Artikel

Kreis, du Dreck

KÜSSE UND BISSE Notizen zum Kleist-Jahr (5): „Ach, wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!“ stand auf der Rückseite des Programmheftes im Gorki-Theater

Eigentlich war alles ganz anders geplant. Dieser Text, dieser April, mein Leben. Ich wollte einfach einen Text über die Arbeit einer Schauspielerin an einem Kleist-Stück schreiben. Ich wollte einfach deinen 41. Geburtstag mit dir feiern und dein neues Buch. Ich wollte einfach mit dir leben. Und nun bist du tot.

Während ich diese Zeilen schreibe, steht der Vollmond über dem Haus gegenüber, dicht neben dem Fernsehturm, und es ist ziemlich unglaublich, dass das derselbe Vollmond sein soll, den wir vor einem Monat zusammen gesehen haben, dieses leuchtendorange Ding, das an diesem Tag (in einem anderen Leben) der Erde so nah war wie seit 20 Jahren nicht mehr. Wir hatten mit dem Fernglas aus dem Kinderzimmer geschaut, über die Plattenbaudächer hinein in dieses freundliche Gesicht.

Ein paar Wochen davor waren wir ins Theater gegangen, am 22. Februar, Recherche, wichtig! Du wolltest unbedingt mit. Hochkultur, das machen wir jetzt mal wieder öfter! „Pick you up um kurz nach sechs, babylove. Vespa aber way too cold. Freu mich, dein m.“

Wir sind dann zu Fuß gelaufen, es war noch ganz winterlich, du im Fellkragenparka, dann zitternd mit Bier und Kippe vor dem Eingang des Berliner Maxim Gorki Theaters. Der erste Teil, da waren wir uns einig: insgesamt MURKS. Die letzten drei Minuten vor der Pause allerdings: es wird besser!

Und es wurde besser. Die Sprache des Dichters wurde zu der Sprache der Menschen auf der Bühne, die (irgendwie warmgelaufen) zu den Figuren wurden, die sie sein sollten, Penthesilea, Prothoe, Achilles.

Zu hause wollten wir dann alles aufschreiben, Notizen machen für das Gespräch mit der Penthesilea-Schauspielerin, für diesen Kleist-Text. Aber dann haben wir uns doch einen Wein bei Herrn Ali geholt (Chianti, der billige, 3,99 Euro), Nudeln mit Fischer-Sauce gekocht und die Nacht durchgetanzt.

Irgendwann an dem Tag, als ich von deinem Tod erfuhr, habe ich an Penthesilea gedacht. An den Text, den ich noch schreiben soll. Daran, dass ich mich jetzt wohl allein erinnern muss an das, was wir vor sechs Wochen auf der Bühne gesehen haben. Daran, dass ich mich auf dich verlassen hatte.

Am Tag deiner Trauerfeier, am letzten Samstag in Hamburg, schaue ich auf mein Telefon, und das zeigt mir diesen Termin, meinen nächsten Termin, 19. 4. 2011 17:00 Anja Schneider/ Gorki, und ich denke, das kann doch nicht dieses Leben gewesen sein, das gleiche Leben, das gleiche Jahr, in dem ich diesen Termin in den Kalender meines Telefons getippt habe.

„Ach, wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!“, steht auf der Rückseite des Programmheftes, das du mir im Foyer des Theaters gekauft hattest. Nun liegt dieses Büchlein auf der Kommode in meinem Flur. Ich hatte dir daraus vorgelesen, vor nicht mal zwei Monaten, vor der Vorstellung und danach, in der U-Bahn nach Kreuzberg.

Ich denke an die erste SMS, die du mir geschrieben hast, die erste von 1058: „Verdammt, jana: die wunden, die du auf meinen Lippen hinterlassen hast, verheilen langsam. Verletzt waren sie mir ja lieber. Was machen deine so? Grüße – m“. Und ich denke an die Worte, die Penthesilea spricht, bevor sie sich einen Dolch in die Brust rammt: „Küsse, Bisse / Das reimt sich.“

„Es gibt auch eine Schönheit, die zerstört“, hast du neulich geschrieben. Und ich denke: Ja, dieser irre Kreis, der sich immer schließen soll, Scheiße, hier schließt er sich. Und dann denke ich: Kreis, du Dreck, ich hasse dich.

Es ist so eigenartig, wie die Dinge Bedeutung bekommen. Kleist zum Beispiel. Manchmal wünscht man sich, sie hätten sie nicht. JANA PETERSEN

■ 2011 ist Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 hat sich der Dichter erschossen. Wir drucken, immer am 21. eines Monats, Notizen zu Leben und Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers. – Die Autorin ist Redakteurin bei der sonntaz