INDER GEHen ZUR BANK : Milliarden Konten
MICHAEL RADUNSKI
Sunita kann es kaum glauben. Indiens Gesundheitsminister Harsh Vardhan persönlich hat ihr ein kleines Heftchen in die Hand gedrückt. Schüchtern schiebt die 40 Jahre alte Inderin ihr hellgrünes Kopftuch aus dem Gesicht und schaut auf das Papier. Dort steht ihr Name, darüber prangt in schwarzen Lettern „Jan Dhan Yojana“, was so viel bedeutet wie „Volksvermögensprogramm“.
Sunita und das kleine Heftchen sind Teil des jüngsten Prestigeprojekts der indischen Regierung: Jeder Inder soll künftig ein Bankkonto besitzen. Zusätzlich wird eine Karte für Geldautomaten und eine Unfallversicherung in Höhe von 100.000 Rupien ausgestellt. Nach sechs Monaten bekommt der Besitzer zudem einen Überziehungskredit von 5.000 Rupien gewährt, ungefähr 63 Euro. Derzeit besitzen lediglich 42 Prozent der 1,2 Milliarden Inder ein Bankkonto, auch Sunita hatte bislang keines. Um ein Konto zu eröffnen, benötigt man in Indien etliche Dokumente wie Personalausweis oder Geburtsurkunde. Vor allem auf dem Land haben nur wenige diese Unterlagen.
So ambitioniert das Programm ist, so intensiv wird es diskutiert: In Fernsehshows kritisiert die Opposition, ein Bankkonto allein reiche nicht aus, um der Armut zu entkommen. Und auf den Straßen Delhis rätseln Rikschafahrer Ajit und seine Kollegen, was sie mit einem Bankkonto überhaupt sollen. „Habe ich noch nie gehabt“, sagt der 50 Jahre alte Ajit. „Geld zum Einzahlen habe ich ohnehin nicht.“
Zentralbankchef Raghuram Rajan hingegen lobt das Vorhaben. Es werde die Armen in die wirtschaftliche Unabhängigkeit führen und den Bauern einen geregelten Zugang zu Krediten eröffnen. Bislang sind drei Viertel aller Landwirte gezwungen, sich von zwielichtigen Mittelsmännern Geld zu leihen. Um aus dem daraus entstehenden Kreislauf aus Schulden und Wucherzinsen zu entkommen, bringen sich viele Bauern um. In den vergangenen Jahren hat sich so in Zentralindien ein regelrechter „Selbstmordgürtel“ herausgebildet.
Indiens Regierung jedenfalls hat den Start des Programms gefeiert. Allein am ersten Tag wurden 15 Millionen neue Konten eröffnet. „Noch nie hat eine Regierung Indiens eine Maßnahme in einer solchen Größenordnung organisiert“, verkündete Premierminister Narendra Modi stolz. Doch um nachhaltig erfolgreich zu sein, bedarf es der nötigen Infrastruktur, meint die Analystin Arpita Mukherjee vom Forschungsinstitut Icrier in Delhi. „Die Banken müssen dafür Zweigstellen auf dem Land errichten. Auch könnten Postbüros den entsprechenden Service anbieten.“ Tushar Pandey von der Yes-Bank schlägt deshalb vor, die Anbieter von Mikrokrediten einzubeziehen. Diese verfügten in vielen Teilen des Landes über enge Verbindungen zu den Bauern.
Sunita jedenfalls will nächste Woche erst einmal das Geld, das zu Hause unter ihrem Kopfkissen liegt, zur Bank bringen. Viel sei das nicht, sagt sie. Aber zumindest ein Anfang.