: „Es muss Schluss sein mit der Auslese“
Vor einem Jahr veröffentlichten die LehrerInnen der Rütli-Schule einen Brief über ihre katastrophale Situation. Seither tobt erneut der Streit über die Abschaffung der Hauptschulen. Sie kämpfen gleichzeitig für und gegen ihre Existenz. Wichtig sind vor allem individuelle Fördermöglichkeiten. Ein Essay
NORBERT GUNDACKER, 54, ist Hauptschullehrer in Tempelhof. Er ist Vorsitzender der Fachgruppe Hauptschulen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin und vertritt die GEW im Personalrat der LehrerInnen und ErzieherInnen in Tempelhof-Schöneberg.
VON NORBERT GUNDACKER
Mehrere tausend Jugendliche werden in diesem Sommer die Berliner Hauptschulen verlassen – nicht wenige davon mit guten Ergebnissen, erfolgreich absolvierten Praktika und anderen zusätzlichen Qualifikationen. Chancen auf dem Ausbildungsmarkt hat dennoch kaum einer von ihnen. Denn der normale Hauptschulabschluss – 9. Klasse erfolgreich besucht – ist auf dem Ausbildungsmarkt nichts wert, und mit dem erweiterten Hauptschulabschluss – 10. Klasse – sieht es kaum besser aus. Das dreigliedrige Schulsystem hat seinen Anspruch, für Chancengerechtigkeit zu sorgen, nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil.
In den Sechzigerjahren entstand für die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen die Hauptschule als eine Schule, deren Ziel vor allem die Berufsorientierung sein sollte. Vier Jahrzehnte später lässt sich feststellen, dass der der Hauptschule zugrunde liegende Gedanke einer überwiegend einseitigen praktischen Begabung nicht mehr trägt.
Begonnen hat die Leidensgeschichte der Hauptschulen bereits in den späten Siebzigerjahren. Grund war die Einführung der Gesamtschulen, die den Hauptschulen einen großen Teil der leistungsstärkeren Schüler wegnahmen. Schon damals gingen 40 Prozent der Hauptschüler in Neukölln oder in Tiergarten ohne Abschluss ab. Und bereits zu Beginn der Achtzigerjahre gab es in Berlin Hauptschulen, in denen Kinder und Jugendliche türkischer und arabischer Herkunft fast ganz unter sich waren.
Die aus diesen beiden Entwicklungen resultierenden Probleme spitzten sich derart zu, dass bereits damals Kolleginnen und Kollegen die Forderung aufstellten, Hauptschulen zu Ganztagsschulen zu machen – eine Idee, die es nach 25 Jahren immerhin auf die Agenda der SPD geschafft hat.
Reform ohne Wirkung
Die seinerzeit für die Schulen zuständige Senatorin Hanna-Renate Laurien (CDU) stand der Forderung zwar aufgeschlossen gegenüber, sie entschied sich aber dennoch für eine andere Reform: Sie verkleinerte die Hauptschulklassen von 25 auf 16 bis 18 SchülerInnen. Bei dieser Klassenfrequenz blieb es bis heute – die Probleme sind damit jedoch nicht gelöst.
1997 forderte erstmals eine Mehrheit der Berliner HauptschulleiterInnen die Abschaffung der überholten Schulform. Erprobt wurde dies schließlich in einem Schulversuch, der Haupt- und Realschulen zusammenfasste – in der sogenannten Integrierten Haupt- und Realschule. Der Versuch blieb allerdings auf zwei Schulen beschränkt.
Nachdem das Lehrerkollegium der Rütli-Schule vor einem Jahr mit einem Brief an die Öffentlichkeit getreten war, der die Unterrichtsbedingungen an der Neuköllner Hauptschule als katastrophal beschrieb, forderten HauptschullehrerInnen und -leiterInnen erneut die Abschaffung ihrer Schulform. Letztere schlugen für eine Übergangszeit ein zweigliedriges Schulsystem mit Gymnasien und Sekundarschulen vor.
Trotz aller Aufregung: Geändert hat sich an den Berliner Hauptschulen in diesem Jahr nichts. Zugegeben: Notwendige SozialarbeiterInnen kamen etwas schneller an die Schulen. Geblieben aber ist die desolate Situation der Hauptschule.
In diesem Sammelbecken landen in Berlin etwa 8 Prozent eines Schülerjahrgangs. Im dreigliedrigen Schulsystem sortiert die Auslese die Lernschwachen, die nicht anpassungsfähigen oder anpassungswilligen SchülerInnen aus. Hinzu kommen jene Kinder und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft, die mangels Deutschkenntnissen den Lernbetrieb an den anderen Schulformen nur aufhalten. Weiterhin erlangt etwa ein Drittel der HauptschülerInnen keinen Abschluss. Je geringer der Anteil von Hauptschülern an der Gesamtschülerschaft, desto größer ist der Anteil der auffälligen Schülerinnen und Schüler darunter. So schwänzt an etlichen Schulen ein Viertel der Schülerschaft mehr oder weniger regelmäßig den Unterricht.
Und was sagen diejenigen, die tagtäglich ein Chaos von Unruhe, Störungen jeglicher Art, Gezanke und Gezerre, Aggressionen, Tritten, Tränen, Beleidigungen, Hyperaktivität, Impulsivität und sexualisierter Drohsprache erwartet? Die Kolleginnen und Kollegen der Fachgruppe Hauptschulen in der GEW Berlin haben sich mit Überlegungen beschäftigt, die darauf abzielen, Schulen zu verändern. Das notwendige Ziel, die Hauptschule abzuschaffen, löst nicht das Problem, dass es immer solche Kinder und Jugendliche geben wird wie die, die heute mehrheitlich die Hauptschulen besuchen.
Sie und ihre LehrerInnen brauchen veränderte Lern- und Arbeitsbedingungen: Sie müssen aus dem gesellschaftlichen Abseits herausgeholt werden; die jungen Menschen müssen berufsfähig werden, müssen in unserer Gesellschaft akzeptable und faire Zukunftsperspektiven erlangen. Schule, wie auch immer sie heißt, muss dies leisten – sonst versagt sie.
Engagiert haben Kolleginnen und Kollegen der Hauptschulen auf immer neue Probleme reagiert. Und doch muss festgestellt werden, dass HauptschülerInnen durch den Besuch ihrer Schulart benachteiligt sind. Für Ausbildungsplätze bevorzugen Handwerk und Industrie Jugendliche mit Abschlüssen anderer Schulformen. Der überwiegende Teil der ehemaligen Hauptschüler Berlins durchläuft teure Warteschleifen an den Oberstufenzentren und bei vielen Bildungsträgern. Der Erfolg all dieser Bemühungen bleibt dabei weit hinter den Erwartungen zurück.
Gegen die Stigmatisierung
Auch Eltern wünschen sich für ihre Kinder eine Schulart, die nicht stigmatisiert wie die Hauptschule im gegliederten Schulwesen. Nach Ansicht vieler HauptschullehrerInnen in der GEW wird eine Schule dann attraktiv, wenn sie von Eltern bewusst gewählt wird. Doch zur Wahlschule kann eine Schule nur werden, wenn sie gesellschaftlich akzeptiert ist, wenn Eltern Vorteile und eine gute Qualität für ihr spezielles Kind erkennen und die Schule diesem Kind eine Zukunftsperspektive bietet.
Für diese Art von Schule heißt das: Kinder müssen mit ihren Begabungen, aber auch allen Problemen und Schwierigkeiten angenommen werden. Die Schule muss ihr Bildungsprogramm an ihnen ausrichten, um eine optimale Förderung zu erzielen. Dazu gehören Lernstand-Diagnosen und individuelle Lernpläne, überschaubare Lernmodule, aufgeteilt in Grund- und Erweiterungsmodule, eine variable Verweildauer sowie neue Formen des Abschlusses. Es muss Schluss sein mit dem Auslesen und Aussortieren.