die taz vor zehn jahren über den abschied vom großintellektuellen als moralischer instanz
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Mit Martin Walser wurde diese Woche noch einmal die Ikone des omnipräsenten Intellektuellen verehrt. Zwar will Walser nicht mehr zu dieser Zunft gehören, die er „die praxisloseste Kirche, die es je gegeben hat“ nennt. Trotzdem nutzte er die Chance, sich zum 70. Geburtstag in mehr als einem Dutzend Interviews leitartikelnd zu verbreiten. Merkwürdig, daß die Feuilletons in Walser weniger den Dichter sehen wollen und lieber nach der Übersicht des Gottähnlichen verlangen.

Eine andere Inszenierung dieser verschwindenden Spezies, der Großintellektuellen, nicht gebrochen wie Walsers last walz, sondern bestürzend steif, selbstgerecht und moralisch, ist Günter Grass’ Rede „Über den Standort“. Ein trauriges Dokument des Beharrens. Grass setzt dem Standortgerede seinen unerschütterlichen und besserwisserischen Standpunkt entgegen. Er dämonisiert den Kapitalismus, der in der Sprache dieser Rede „man“ heißt: „Man will Geschäfte machen.“ „Der Mafia ist man über Geldwaschanlagen verbunden.“ Und was Sekten betrifft, „findet man sich häufig genug mit ihnen auf einer Wellenlänge“.

Wie gerufen kommt dieser Art Kritik – nein, nicht Kritik, denn Kritik heißt doch Unterscheidung –, kommt dieser selbstgewissen Sorgenagitation der Auftritt der Global Player, wie sich die großen Banken selbst nennen. Sie tun in der Tat so, als sei die Welt der Sandkasten für ihre Gewinnspiele. Aber der Gewißheitsgewinn, den sich Leitartikler auszahlen – „Jetzt wissen wir definitiv, wer die Macht im Lande hat“, kommentierte die Frankfurter Rundschau –, und ihre triumphale Geste zeigen, daß sie noch der gleichen Formation angehören wie die Kritisierten. Sie verbindet der heimliche Glaube an die Macht des Fädenziehens. Dabei wußten doch die Listigen aller Zeiten, daß Machtfiguren in dem Augenblick ohne Kleider dastehen, in dem das Publikum nicht mehr an sie glaubt.

Reinhard Kahl in der taz vom 29. 3. 1997