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Archiv-Artikel

Die netten Leute von der Ossi-Ranch

Die wahrhaft letzten Abenteuer der Menschheit. Heute: Unterwegs mit einer Countryband

Viele Menschen führen Parallelexistenzen. Und das aus guten Gründen. Weil ein einzelnes Leben oft nicht genug ist. Aber nicht alle Doppelleben sind so grotesk wie die der inzwischen fast schon sprichwörtlichen Politiker und Manager, die sich abends von gelangweilten Dominas die Harnröhre mit drahtigen Pfeifenreinigern durchbürsten lassen, weil man das offensichtlich braucht, wenn man selbst den ganzen Tag Untergebene anschreit und demütigt.

Meine Parallelexistenz ist viel erquicklicher und zivilisierter, aber mitunter doch prickelnd bizarr. Sie besteht darin, dass ich mit einer postmodernen, heiter-ironischen Countryband durch die Lande ziehe und Orte aufsuche, where no man has gone before. Zumindest no man ohne Stetson und Cowboy-Boots. Und ich bin dankbar dafür, dass ich diese Orte sehen darf, weil ich sonst viel weniger über die Welt wüsste und somit doof bliebe. Dabei achte ich selbstverständlich auch darauf, dem Country-Universum und seinen Einwohnern stets mit Neugierde und nie mit Hochmut zu begegnen.

Das bürgerliche Dasein ist viel zu langweilig, als dass ich es nicht zu schätzen wüsste, wenn Menschen auf so sympathisch durchgeknallte Ideen kommen wie zum Beispiel in eine Lagerhalle mitten in einem südostniedersächsischen Gewerbegebiet einen kompletten 1:1-Western-Saloon einzubauen und dort defizitäre Country-Konzerte zu veranstalten. Von außen denkt man: Oh, in dem Schuppen wird bestimmt radioaktiver Sondermüll verklappt oder er gehört einem Serienmörder, der darin Frauentorsi stapelt. Dann aber tritt man durch die Tür und man fühlt sich wie Alice im Wunderland. Eine fremde und seltsame Welt tut sich auf: Die Industrieblechwände sind von oben bis unten im Blockhausstil holzverkleidet, überall hängen Pferdegeschirre und Ledersättel. Vor der Bühne stürzt ein künstlicher Wasserfall von der Wand und pünktlich um 20 Uhr taucht der örtlichen Line-Dance-Club in vollem Ornat auf, schreit „Yehaaw!“ und positioniert sich tanzbereit vor der Bühne. So wird der Band klargemacht, wozu sie da ist. Und die Band gehorcht, weil es schön ist zu wissen, dass das, was man da tut, einen praktischen Sinn hat und nicht bloß l’art pour l’art ist.

Aber auch Überraschungen gibt es an solchen Abenden: Passend zum deutschen Filmstart von „Brokeback Mountain“ erscheinen zwei eindeutig homosexuelle Cowboys, wippen hocherfreut zu unserer langsamen, sentimentalen „tear-jerker“-Version von YMCA und machen dann beim Aftershow-Bier klar, dass sie nur zu gern zwei bis vier Bandmitglieder mit nach Hause nehmen würden. Und während man sich Mühe gibt, das Angebot zum erotischen Herrenrodeo möglichst höflich zurückzuweisen, freut man sich, dass die Welt nicht so eindeutig ist, wie sie oft erscheint.

Schön ist es auch, wenn man freitags in irgendeiner Großstadt in einem abgefuckten Rockclub von trendy gepiercten und tätowierten Junghedonisten ob des ironisch-humoristischen Ansatzes der Darbietung bejubelt wird und am nächsten Tag als Höhepunkt des Sommerfestes eines todernsten ostdeutschen Westernvereins spielen darf.

Auf diesem Fest – das in einer Bad-Segeberg-Karl-May-Kulisse auf einem ehemaligen NVA-Gelände stattfindet – sind alle verkleidet: So weit das Auge reicht nur Hüte, Staubmäntel, Sporen und Westernpetticoats. Dementsprechend wird man dort wegen des Abends zuvor abgefeierten Ironieanteils misstrauisch beäugt. Und dann erfährt man, dass der Verantwortliche für die Auswahl der Band seine stattliche Country-Vokuhila-Frisur für uns verpfändet hat: „Jungs, wenn die eure Musik scheiße finden, dann muss ick mir’n Kopf rasieren. So ist der Deal!“

So bangt man das komplette erste Set um die Haare des Veranstalters und hofft zudem, dass die Colts und Vorderlader, die die Ostcowboys mit sich herumtragen, nicht vielleicht doch echt sind. Und es pisst in Strömen. Und das Konzert ist Open Air.

Gerade als man so weit ist, alle Backstage in einem Osterkörbchen dekorierten „Kleinen Feiglinge“, Kirschbrände und Minipflaumenschnäpse („In eurem Vertrag steht doch, ihr wollt’n Obstkorb in der Garderobe!“) auszutrinken und sich mit den mitgeführten Rest-Silvesterknallern den Weg nach Hause freizubomben, beginnt es, dem Publikum zu gefallen. Und die Menschen verstehen, dass wir es doch ernst meinen. Wieder wird gelinedanced, dass das Stiefelleder kracht. Hinterher im Saloon, der diesmal in Wochenendarbeit in die NVA-Kaserne hineingezimmert wurde, wird man auf die Tanzfläche gezerrt und muss selbst mittanzen. Nach diversen Jim Beams dann Geständnisse: „Na ja, erst hamwer jedacht, ihr seid arrogante Wessis, aber … aber jetzt seid ihr doch echte Kumpels!“ Und so fühlt man sich dann auch: wie’n echter Kumpel.

Zum Abschluss steht dann ein kleiner Mann mit Schlapphut vor einem und sagt: „Ick bin Festus Junior aus Berlin, ick steh uff New Country und FKK“ und man schaut ihm ins Gesicht und versteht sofort, warum er sich ausgerechnet diesen Kampfnamen ausgewählt hat. Obwohl er gar kein Muli hat.

Am nächsten Morgen nimmt er eine Hand voll Aspirin, flüstert leise „Howdy“ und fährt zurück in die wirkliche Welt, in der ein Mann nur noch selten das tut, was ein Mann tun muss … HARTMUT EL KURDI