: Wo die wilden Kerle wohnen
VON EDITH KRESTA
Sie geben sich knallhart: „Ey Alter“. Dabei sind sie eher tapsig als selbstsicher. Die fünf Jungs im Oberdeck der Buslinie 48 nerven. Arabische Musik dudelt in voller Lautstärke aus einem Handy. Der kleine Dünne fasst einem blonden Mädchen im Vorbeigehen respektlos an die Brust und bespuckt deren Freundin, die losbrüllt. Sie geben sich völlig entgrenzt. „Deutsche Schlampe“, kommt ihnen genauso geläufig über die Lippen wie „Fick deine Mutter“. Randalierende Testosteronbomber mit Migrationshintergrund. Sie sind die Schrecken der Bürger, Frauen und Mädchen fühlen sich bedroht. Man findet sie in den Berliner Bezirken Schöneberg-Nord, Wedding, Kreuzberg und Neukölln. Konzentriert in Neukölln, wo die Rütli-Schule liegt.
Um 7 Prozent ist die Jugendgruppengewalt laut Berliner Innenverwaltung im vergangenen Jahr gestiegen. 80 Prozent der jugendlichen Serientäter haben einen Migrationshintergrund. Und sie haben ein gemeinsames soziales Problem: Die Täter kommen hauptsächlich aus finanzschwachen und kinderreichen Flüchtlingsfamilien mit arabischem (36 Prozent) oder exjugoslawischem (28 Prozent) Hintergrund, gefolgt von türkischen Migrantenkindern (19 Prozent). Am auffälligsten unter den sogenannten Intensivtätern sind die arabisch-libanesischen Jugendlichen: Als Intensivtäter wird eingestuft, wer innerhalb eines Jahres mindestens zehn Straftaten begangen hat.
„Eine ganze Generation fällt heraus“, sagt Ahmad al-Sadi. Der Wirtschaftswissenschaftler kommt aus Palästina und arbeitet ehrenamtlich als Elternvertreter an der Rütli-Schule. „Es gibt in ihrem Leben keine Institution – sei es Schule, Freizeit oder Elternhaus – die ihnen tatsächlich lebbare Alternativen bietet“, beklagt er. Dabei nähmen sie Angebote, wo sie ernst genommen und respektiert werden begierig an, weiß er aus seiner Arbeit an der Rütli-Schule. Doch: „Diese Angebote sind viel zu gering.“
Die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss steigt beständig. Unter türkischen und arabischen Migrantenkindern liegt er bereits über 40 Prozent. „Die Lehrer sagen einem ja von vornherein, das schaffst du sowieso nicht“, sagt Ali. Er ist häufig Gast bei der Schöneberger Jugendhilfe Gangway. Wie viele der Jugendlichen spricht er weder Deutsch noch Türkisch gut. „Viele verlassen die Schule und können gar nichts“, erzählt Abdelmajid Alkabir, der seit 20 Jahren bei Gangway als Streetworker arbeitet. „Wenn sie besonders auffällig sind, werden sie von der Schule zwangsbeurlaubt. Mit dem Effekt: Sie gewöhnen sich ans Schwänzen. Dabei gibt es keinen Ort, wo sie tagsüber hingehen könnten, außer Shoppingcenter, Internetcafés und Spielplätze.“ Und Hamadi fügt hinzu: „In Diskos kommen wir sowieso nirgends rein.“ Zuerst wurde sein Outfit vom Türsteher kritisiert. Als er sich neu einkleidete, wurde er mit dem Verweis „zu voll“ wieder weggeschickt. Es fehlt an Orten, an Perspektiven. „Die ganze Integrationsdebatte, die in den Medien geführt wird, ist bei uns nicht angekommen. Solange diese Jugendlichen überhaupt keine Chancen haben, eine Arbeit zu finden, braucht man über Integration nicht zu sprechen“, sagt Abdelmajid, der ein sehr persönliches Verhältnis zu den Jugendlichen hat. „Integration findet auf dem Arbeitsmarkt statt.“
Vererbtes Losergefühl
Und der war häufig schon für ihre Väter geschlossen. Sie machen die gleichen Erfahrungen wie ihre palästinensischen Väter, als sie nach Deutschland kamen. Das Gefühl der Ausgrenzung, des ungeklärten Status in einer Gesellschaft brachten viele aus dem Libanon kommende Palästinenser mit nach Deutschland, wo sie als „Staatenlose“ registriert wurden. Viele sind inzwischen eingebürgert oder haben einen dauerhaften Aufenthaltsstatus. Zunächst ohne, später mit Arbeitserlaubnis. Doch sie haben sich längst am Rande der Gesellschaft eingerichtet. „Sie haben jegliche Initiative verloren“, sagt al-Sadi. Und auch die Prinzen der Familien, die jungen Männer, geben häufig als einzige Berufsvorstellung „Hartzer“ an. Die Verantwortung für das eigene Schicksal wird abgeben, bevor es richtig angefangen hat. Vererbtes Losergefühl.
Untersuchungen zeigen auch: In vielen arabischen und türkischen Haushalten in Deutschland wird mit Gewalt erzogen. Der Vater ist Alleinherrscher, auch wenn nicht er, sondern das Sozialamt die Familien ernährt. Dabei ist das Image des Patriarchen längst zusammengebrochen: Vielen Jungen erscheinen ihre oft arbeitslosen Väter als Versager. „Zwischen den Jugendlichen und ihren autoritären Eltern herrscht meistens kein Vertrauensverhältnis. Es gibt wenig Kommunikation. Lügen sind verbreitet“, sagt Lina Ganama vom Verein für arabische Frauen, al Nadi (Nachbarschaftsheim Schöneberg). „Die Eltern bieten keinen Halt im Dschungel der deutschen Realität. Sie fangen ihre Kinder nicht auf, sind selbst hochgradig verunsichert.“ Die Entwertung des familiären Bezugssystems fördert bei den Jugendlichen, die sonst nirgends Anerkennung bekommen, die Entgleisung. Leben im Nichts. Ohne Selbstwert.
„Wir wollen nicht wie die Deutschen werden“ sei eine weit verbreitete Auffassung in arabischen Familien, sagt Lina Ganama. Und deutsch sei vor allem das andere Geschlechterverhältnis. Die Eltern sind verunsichert über das Aufweichen der Geschlechterseparation, die sie aus ihrer Herkunftskultur kennen. Sie greifen zu Trennlinien, um die Welt zu ordnen: „Und die drehen sich um Ehre und Jungfräulichkeit“, sagt Lina Ganama. Diese tradierten Werte versuchen sie durch die Rückbesinnung auf Religion zu untermauern. Die Jungen lernen, dass sie über ihren Schwestern stehen. Sie werden gewarnt, dass deutsche Mädchen Huren sind. Sie erfahren, dass Männlichkeit etwas mit Stärke zu tun hat, auch mit Ehre.
Die „Ehre“ ist eine der wichtigsten Triebfedern in der Sozialisation muslimischer Jungen. Doch die Kenntnisse der Jungen über ihre eigene Kultur, auch über den Ehrbegriff, sind rudimentär. Letztlich ist die „Ehre“ eine leere Hülse. So kommt es, dass sie in missverständlichen Situationen, lieber sofort zuschlagen, um sich nicht hinterher vorwerfen lassen zu müssen, nicht reagiert zu haben. Ihre Aggressivität kommt aus der Krise hohler Männlichkeit. Das demonstrative Machogehabe wirkt wie das sinnlose Aufbäumen einer – zumindest in diesen Breitengraden – zum Aussterben verurteilten Art. Ein Imponiergehabe durch das sie hier nur negativ auffallen, das sie stigmatisiert.
„Und die arabische Community – es gibt hier genug gut situierte arabische Ingenieure oder Ärzte – kümmert sich nicht um diese Leute“, kritisiert Elternvertreter al-Sadi. Ihm wäre es lieber, sie würden, „statt stundenlang gegen Israel zu politisieren, ehrenamtlich Nachhilfestunden für Palästinenser geben.“ Es fehle an Zivilcourage, diese Jugendlichen in der Öffentlichkeit zur Räson zu bringen, pflichtet Lina Ganama bei. „Zum Glück gibt es inzwischen viele arabische Therapeuten“, sagt al-Sadi. „Das ist ein Fortschritt.“
Mehr Männer in die Pädagogik
Er und Lina Ganama sind sich darin einig, dass der Kindergartenbesuch Pflicht sein müsste. Sie fordern, dass die Schule sich öffnet. Als Begegnungsstätte, denn die Migrantenfamilien leben ansonsten beziehungslos zur deutschen Gesellschaft. Die Eltern müssten einbezogen werden. Und es werden mehr Männer gebraucht in pädagogischen Berufen: als Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter. Ziel all dieser Maßnahmen: Die gewalttätigen Jugendlichen müssen aus ihrem abgeschotteten Milieu geholt werden. „Es muss eine Kultur der Anerkennung auch für diese Jugendlichen geben. Sie müssen sich geachtet und respektiert fühlen“, sagt al-Sadi.
Ulla K., Lehrerin an einer Kreuzberger Oberschule, kommt gut klar mit ihren „Problemfällen“. „Sie sind undiszipliniert, unmotiviert, perspektivlos, aber sie sind meistens netter zurecht gemacht und sehen besser aus als unsere deutschen Prolls“, konstatiert sie trocken. Mit in der Mehrzahl türkischen und arabischen Jugendlichen übt sie gerade eine Theaterstück über das Abzocken auf Berliner Straßen ein. Die Jugendlichen zieren sich, aufeinander zuzugehen. Außerhalb ihrer Gruppe wirken die knallharten Jungs schüchtern, unsicher. Sie haben kein Körpergefühl. Die Mädchen kichern und schmollen. „Du musst sie anfassen, zerr’ sie nach vorn!“, gibt die Lehrerin Regieanweisungen. Alle schauen vollends ratlos. „Wer ist den nun schon wieder Zersi?“, fragt einer hilflos.