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Archiv-Artikel

Interessanter als Yin und Yang

„Verordnete Harmonie, entfesselter Kapitalismus“: Das erste Heft der Edition Le Monde diplomatique ist China gewidmet

Chinas globaler Wiederaufstieg und seine natürlich nicht nur harmonischen Beziehungen zu wichtigen Staaten, Regionen und internationalen Konfliktfeldern stehen im Zentrum der ersten Edition Le Monde diplomatique, die seit 21. März im tazshop, im Buchhandel und an ausgewählten Kiosken erhältlich ist. Das Themenheft beleuchtet nicht nur Chinas Außenpolitik und seine Interessen zum Beispiel im Streit um Nordkoreas Atomprogramm, im Mittleren Osten oder in Afrika, sondern auch Pekings internationale Softpower-Initiative: In seiner auswärtigen Kulturpolitik setzt China auf die Einrichtung der Konfuzius-Institute.

Auch das propagandistische Leitmotiv von Chinas Partei- und Staatsführung unter Hu Jintao ist unter Berufung auf Konfuzius entstanden: Harmonie. „Verordnete Harmonie“: Keine offizielle Erklärung kommt ohne Verweis auf den angestrebten Aufbau „einer harmonischen Gesellschaft“ aus. Das signalisiert das Versprechen, es allen Chinesen und Chinesinnen recht zu machen. Zumindest soll dem Volk versichert werden, dass sich die Führung der wachsenden sozialen Spannungen und Gegensätze bewusst ist und im Interesse der Allgemeinheit an deren Beseitigung arbeitet.

Unter Harmonie versteht Hu Jintao: „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Freundschaft und Vitalität“ – natürlich unter realchinesischen Vorzeichen. Harmonie soll nicht nur das Verhältnis zwischen Partei, Regierung und Bevölkerung prägen, sondern auch das zwischen Mensch und Natur – modernes Parteichinesisch eben. Dennoch verkündet Hus „harmonische Gesellschaft“ eine Abkehr von der Politik seines Vorgängers Jiang Zemin, für den Wirtschaftswachstum über alles ging. Damit hoffte er, alle Probleme lösen zu können. Hus Konzept der „harmonischen Gesellschaft“ erkennt dagegen an, dass großes Wirtschaftswachstum kein Allheilmittel ist, sondern neue Probleme schafft und es ergänzender Maßnahmen bedarf, um weitere Umweltzerstörungen zu vermeiden. Und vor allem soziale Instabilität, denn die könnte die Macht der KP gefährden.

Pekings neue Leitlinie steht für Einsicht, Lernbereitschaft und guten Willen. Reformverlierern muss dies jedoch wie Hohn in den Ohren klingen: Wer seine eigenen Vorstellungen verwirklichen möchte, stößt schnell an die Grenzen der Harmonie und muss wie bisher mit harten Sanktionen rechnen. Was Harmonie im Einzelnen bedeutet, definiert die KP weiterhin ganz allein. So gibt es bereits Vorgaben für die Medien, bestimmte Themen zu meiden, weil diese die Harmonie stören könnten.

Inzwischen überträgt die Führung in Peking ihr Harmoniekonzept auch auf die Außenpolitik, wo sie den Aufbau der „harmonischen Welt“ propagiert. Die Parole soll dem weiteren Aufstieg der Volksrepublik den Weg ebnen und signalisieren, dass niemand vor einem starken China Angst haben muss. Vielmehr sei ein prosperierendes China für die ganze Welt ein Segen. Der Mantel der Harmonie soll die tatsächlichen Macht-, Interessen- und Verteilungskonflikte überdecken, denn der große Globalisierungsgewinner China ist mit seinem Rohstoffbedarf, seinen Investitionen und Absatzmärkten inzwischen stark vom Ausland abhängig. Für den weiteren Aufstieg ist man deshalb auf ein friedliches und stabiles Umfeld angewiesen.

Das Konzept der „harmonischen Welt“ signalisiert, dass China die Verschiedenartigkeit der Welt akzeptiert, aber auch selbst so akzeptiert werden will, wie es unter der KP-Herrschaft ist. Damit erklärt man Kritik, etwa aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, oder das Festhalten am EU-Waffenembargo zu einer Störung der Harmonie. Dieses weiche Harmoniekonzept verbindet Peking mit einer diplomatischen, wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Offensive in Zentral- und Südostasien, Afrika und Lateinamerika.

Der „entfesselte Kapitalismus“ ist ein weiterer Schwerpunkt des 116-Seiten-Hefts: Chinas wirtschaftliche Transformation unter der Einparteienherrschaft samt den daraus entstehenden politischen und sozialen Widersprüchen. Beleuchtet werden der sprunghafte Umgang der KP mit Ideologien ebenso wie der Versuch der Sinisierung der Muslime in Xinjiang, die Immobilienspekulation in Schanghai oder – Stichwort: Überalterung – die demografischen Folgen der Einkindpolitik. Das Heft gibt zudem Einblicke in Chinas Menschenrechtsdebatte, seine Protestkultur und den Missbrauch der Psychiatrie zu politischen Zwecken – all dies ergänzt durch zahlreiche Schaubilder und farbige Karten.

Ein Blick voraus gilt den Olympischen Spielen im Sommer 2008. Dann wird nicht nur Peking, sondern das ganze Land im internationalen Rampenlicht stehen. Für die KP-Führung sollen die Spiele Aufstieg und Modernisierung des Landes symbolisieren. Doch bislang mag in der Bevölkerung keine rechte Begeisterung aufkommen. Damit die Pekinger im August 2008 nicht drängeln, müssen sie bis dahin an jedem 11. des Monats, dem „Schlangesteh-Tag“, ordentliches Anstehen üben.

SVEN HANSEN, taz-Asienredakteur, hat „China: Verordnete Harmonie, entfesselter Kapitalismus“ (Edition Le Monde diplomatique) als verantwortlicher Redakteur betreut