Wer hungert, hat es satt

Ob auf dem Jahrmarkt oder gegenüber der Londoner Tower Bridge: Hungerkünstler gibt es seit mehr als 120 Jahren. Freiwilliger Verzicht ist Selbstbestimmung in Reinform. Und mündet meist in den Rausch

VON ANNE HAEMING

Ein Plexiglas-Kubus, an Stahlseilen schwebend, neun Meter über einem Londoner Park. Darin ein Mann, bärtig. Außer Wasser nimmt er 44 Tage lang nichts zu sich. Als David Blaine im Oktober 2003 seinen luftigen Käfig wieder verlässt, hat er knapp 25 Kilogramm abgenommen. Der Amerikaner versteht sich als „Magier“. Sieben Tage lebendig begraben, über 60 Stunden in einen Eisblock gefroren, eine Woche am Stück unter Wasser in einem riesigen Goldfischglas in New York. Und zwischendurch eben: rund sechs Wochen ohne Nahrung, und das vor Publikum. Kein Magier – ein Hungerkünstler. Mit der Londoner Aktion ließ Blaine eine Tradition wieder aufleben, die im Fin de siècle populär wurde. Zuerst waren es nur Ärzte, die ein wenig experimentieren wollten: Henry Tanner etwa, der 1880 beweisen wollte, dass man seine tierischen Triebe besiegen kann. Die Idee vom freien Willen hatte Hochkonjunktur. Bald tauchten berufliche Hungerkünstler auf, sie waren in ihren Käfigen neben bärtigen Frauen und Vogelmenschen die Attraktion der Jahrmärkte. Als 1924 Franz Kafkas Kurzgeschichte „Ein Hungerkünstler“ erschien, war das Interesse an Hungerkünstlern, heißt es dort, schon „sehr zurückgegangen“. Kafkas Hauptfigur hungert sich am Ende auf dem Jahrmarkt zu Tode.

Was David Blaine, die damaligen Schausteller und Kafkas Protagonisten verbindet, ist: Sie hungern freiwillig, und sie hungern für eine bestimmte Zeit. Wie Fastende, nicht wie Verhungernde. Sie üben Macht aus, kontrollieren einen klar umrissenen Bereich. Nicht essen ist in diesem Falle Selbstbestimmung. Dass Gefangene, ob sie nun der RAF oder der IRA angehörten, ob sie in Guantánamo oder Kurdistan in Haft sind, einen Hungerstreik als letzten Ausweg sehen, erscheint vor diesem Hintergrund nur konsequent. Ihr Leben ist komplett fremdbestimmt, ihre Bewegungsfreiheit ist im Extremfall auf eine Einzelzelle von ein paar Quadratmetern begrenzt. Was sie lesen, was sie sagen, wen sie sehen, was sie anhaben, was sie essen – nichts davon können sie selbst entscheiden. Ihr Handlungsspielraum ist äußerst eng. Aber nicht inexistent. Sie können ihren Willen nur noch da bemerkbar machen, wo sich der Mensch als Homo sapiens zeigt: bei der Nahrungsaufnahme. Qua Vernunft haben sie die Wahl. Und sie entscheiden sich gegen den natürlichen Trieb. Für das Magenknurren. Und bewahren so einen Rest an Identität.

Die absolute Reduktion auf das Selbst ist ein Leitmotiv der Kunst. Maler, Bildhauer, Literaten, sie fühlen sich hin- und hergerissen zwischen „Leibsein“ und „Körperhaben“, wie es Gernot Böhme in seiner Leibphilosophie nachzeichnet. Da ist der Performance-Künstler Blaine, der wie einst der Arzt Henry Tanner vorleben will, wie sich die niederen Instinkte besiegen lassen: Mit „Leibsein“ will er das „Körperhaben“ überwinden. Da ist Herman Melvilles „Bartleby, der Schreiber“, dessen „I prefer not to“ auch für das Essen gilt. Und da ist Kafka, der, posthum unter Magersuchtverdacht, in Essays und Kurzgeschichten über den Zusammenhang von Identität und Nahrungsverweigerung räsoniert. Auch Gregor Samsa, der „Held“ aus Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, wird dafür oft zitiert.

Aber es gibt auch subtilere Fälle, die eher auf das politische Element des Hungerstreiks verweisen als einer Form von Herrschaftskritik aus der Defensive heraus. „Leben und Zeit des Michael K.“ etwa, ein Roman des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers John M. Coetzee, geschrieben 1983. Die Romanfigur gehört zur falschen Seite der Apartheid. Michael K. zieht ziellos durchs karge Land – bloß in kein Arbeitslager. Alle paar Meilen steht ein Zaun, der ihn daran erinnert, dass er „ein Eindringling ist und gleichzeitig einer, der abhaut“. Er ist stets dazwischen, obwohl sein Platz in der Gesellschaft vorgegeben ist. Definitionsraum für sich selbst bleibt so gut wie keiner, in einem Land, das das Apartheid-Regime in ein großes Gefängnis verwandelt hat. Er selbst zu sein, konnte er nicht lernen. Irgendwann hört Michael K. auf zu essen, er hat es satt. Vielleicht ein paar Wassermelonen hier und da, mehr nicht. Als man ihn in die Klinik zwingt, lässt er es ganz. Diese Verweigerung ist alles, was ihm an eigenem Willen bleibt.

Aber auch das Gegenteil von Kolonialherrschaft und Gefangenendasein kann diese eigensinnigen Blüten treiben. Jean Baudrillard spricht vom Heute als jener Ära, die im Zeichen der „Produktion des Anderen“ steht. Identitätssuche ist in Zeiten ohne rigide Zwänge und Grenzen, dafür mit Fragmentierung und metaphysischer Obdachlosigkeit eben ähnlich zermürbend wie unter dem Terror totaler Fremdbestimmung. Die Lösung: Man schafft sich stabile Referenzpunkte, auf die man sich und sein Selbst beziehen kann. Im Alltagsleben ist dieser Dreh- und Angelpunkt der letzte Rückzugsort des Menschen geworden: sein Körper.

Man erschafft sich also selbst, ein Akt der Autopoiesis. Schönheitsoperationen sind eine mögliche Variante dieser Identitätsprothese, anabolisches Krafttraining eine andere. Und eine dritte eben: das kontrollierte Nichtessen. Wer freiwillig hungert, erklären Neurologen, bei dem stellt sich früher oder später das so genannte Hunger-High ein: Der Körper schüttet nach rund drei Tagen körpereigene Opiate, Serotonin, Glückshormone aus. Dieses Hungerdelirium gibt auch der Ich-Erzähler in Knut Hamsuns Romanklassiker „Hunger“ zu Protokoll, der Protagonist ist geradezu angeschickert, auf Droge. Fastende sind in dieser Phase berauscht vom Nichtessen.

„Er allein nämlich wusste, auch kein Eingeweihter sonst wusste das, wie leicht das Hungern war“, schreibt Kafka in seiner einschlägigen Kurzgeschichte. „Es war die leichteste Sache von der Welt.“ Dass dieser Rausch in eine Sucht umkippen kann, wirkt vor diesem Hintergrund kaum noch überraschend. Die körpereigenen Glückshormone und die Gewissheit, wenigstens in diesem kleinen Feld Kontrolle auszuüben, mischen sich zum unschlagbaren Trip. Besser bekannt als Anorexia nervosa, Bulimie & Co. Wer dieser Sucht nachgibt, bei dem schlägt die Hungerkunst um – in Autokannibalismus. Am Ende steht dann die buchstäbliche Selbstzerfleischung. Und das, ohne auch nur einen Happen gegessen zu haben. David Blaine jedenfalls schwor nach den 44 Tagen Hungern: „Ich mache so etwas nie wieder.“

ANNE HAEMING, 28, ist Anglistin und freie Journalistin. Sie lebt in Berlin und geht ungern hungrig ins Bett