Acht Leichen und kein Kokain

Guatemala kann grausig, blutig und absurd sein. Die Regierung bemüht sich, zumindest den Sicherheitsapparat unter Kontrolle zu bringen – doch das ist nur die offizielle Version

VON TONI KEPPELER

Über zehn Jahre nach Ende der Bürgerkriege in Zentralamerika sterben in El Salvador und Guatemala täglich mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Hochzeiten der bewaffneten Konflikte. Ging es früher um einen Kampf zwischen links und rechts, zwischen Befreiungsbewegungen und Armee, soziale Gerechtigkeit versus Herrschaft der Oligarchie, sind die Gründe der Gewalt heute vielschichtiger. Armut, korrupte Sicherheits- und Justizapparate, die finanzielle Allmacht des Drogenhandels und das Wiederauferstehen alter Strukturen von Todesschwadronen gegen politisch missliebige Personen hinterlassen ihre blutige Spur.

International allerdings blieb die desaströse Entwicklung weitgehend unbemerkt. Guatemala wurde im vergangenen Jahr in den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gewählt und konkurrierte gar auf Vorschlag der US-Regierung mit Venezuela um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat.

Erst die folgende Geschichte brachte den gewalttätigen Alltag Guatemalas in die Schlagzeilen. Sie geschah zwischen dem 19. und 26. Februar dieses Jahres. Bei der Rekonstruktion der Ereignisse wurden nur Informationen verwendet, die von mindestens zwei voneinander unabhängigen Quellen bestätigt wurden. Namen, Daten und Fakten lassen sich jederzeit überprüfen.

Guatemala-Stadt, Montag, 19. Februar, 20.30 Uhr. Auf den Straßen im Zentrum und erst recht auf den staubigen Wegen der Außenviertel ist kaum mehr ein Mensch unterwegs. Bei der Leitstelle der Freiwilligen Feuerwehr geht ein Anruf ein: An dem Feldweg, der in dem Flecken El Jocotillo an der Finca Las Conchas vorbeiführt, stehe ein Auto in Flammen. Das sind rund dreißig Kilometer südöstlich der Hauptstadt. Ausrücken lohnt sich eigentlich nicht. Bis das Löschfahrzeug an Ort und Stelle ist, wird das Auto längst ausgebrannt sein. Aber weil sonst nichts zu tun ist, schickt Leitstellenchef Pedro Lima Escobar trotzdem einen Wagen los.

Als die Feuerwehr in Las Conchas eintrifft, steht da wirklich nur noch ein ausgebranntes Wrack. Ein Toyota Landcruiser mit einem Nummernschild aus dem benachbarten El Salvador: P 186171. Auf der Rückbank sitzen zwei verkohlte Leichen. Vor der Fahrer- und der Beifahrertür liegen zwei weitere. Der Landcruiser hat auf beiden Seiten mehrere Einschusslöcher, die vier Leichen haben jeweils ein Loch im Kopf. Offensichtlich wurden sie erschossen, mit Benzin übergossen und angezündet.

Anhand des Nummernschilds ist es nicht schwer, die Identität der Toten festzustellen. Der Landcruiser gehörte William Pichinte, 48, der im Zentralamerikanischen Parlament die extrem rechte salvadorianische Regierungspartei Arena vertrat. Mit ihm, das wusste man, waren seine beiden Fraktionskollegen Eduardo D’Aubuisson, 32, und José Ramón González, 57, nach Guatemala gereist. Dazu Pichintes Fahrer und Leibwächter Gerardo Napoleón Ramírez. Die Abgeordneten wollten in dieser Woche an einer Sitzung des Parlaments in Guatemala-Stadt teilnehmen.

In derselben Nacht noch eilt Julio Rank, Sprecher des salvadorianischen Präsidenten Antonio Saca, zum Tatort und diktiert von dort übers Handy einem Redakteur der größten Tageszeitung El Salvadors: „Das Bild ist wahrhaft dantesk. Es gibt ein Auto mit Einschusslöchern und vier verkohlte Leichen. Diese Art von Ereignissen verschlagen einem die Sprache. Raub ist hier sicher nicht das Motiv gewesen.“

Präsident Saca, ein kleiner, gedrungener Mann von 42 Jahren, der seine politische Karriere als Fußballkommentator im Radio begonnen hatte, spricht am nächsten Morgen auf dem Heldenfriedhof von San Salvador von einem politischen Verbrechen: „Das Ziel dieser Tat war es, Arena einzuschüchtern.“

Saca war an diesem sonnigen Morgen mit einer hochrangigen Delegation von Parteifunktionären auf den Friedhof gekommen, um Roberto D’Aubuisson, den Vater eines der ermordeten Abgeordneten, zu ehren. Am 20. Februar jährte sich dessen Todestag zum 15. Mal. Roberto D’Aubuisson hatte in den 1970er-Jahren die salvadorianischen Todesschwadronen organisiert, 1980 den Mord an Bischof Oscar Arnulfo Romero in Auftrag gegeben und später die Arena-Partei gegründet, die seit 1989 ununterbrochen regiert. Sohn Eduardo lag während der Feier am monumentalen Grab des Alten verkohlt im Leichenschauhaus von Guatemala-Stadt.

Eduardo D’Aubuisson war im Morgengrauen des Vortags zusammen mit den anderen salvadorianischen Abgeordneten des Zentralamerikanischen Parlaments in San Salvador aufgebrochen. Die zwanzig Politiker fuhren wie immer im Konvoi. Die Straße nach Guatemala-Stadt ist bekannt für Überfälle. Gegen 8 Uhr passierte die Kolonne die Grenze, ohne Kontrolle. Auf der guatemaltekischen Seite wartete eine Polizeipatrouille, die die Abgeordneten in die Hauptstadt geleiten sollte. Eine routinemäßige Sicherheitsmaßnahme.

William Pinchetes Landcruiser fuhr anfangs im hinteren Teil der Kolonne. Wenige Kilometer nach der Grenze überholte er die vor ihm fahrenden Wagen inklusive des Patrouillenfahrzeugs an der Spitze und war schnell außer Sichtweite. Das nächste Mal wird er um 10.20 Uhr vor dem Supermarkt La Pradera in der Zone 10 von Guatemala-Stadt gesehen, dem um diese Uhrzeit umtriebigen Geschäfts-, Einkaufs- und Vergnügungsviertel für die Reichen. Dort schneidet ein grauer Toyota Yaris mit der guatemaltekischen Nummer P 023 DDM dem Landcruiser den Weg ab.

Der funkelnagelneue Yaris, ausgestattet mit einem satellitengestützten Ortungssystem, war erst wenige Tage zuvor der guatemaltekischen Kriminalpolizei übergeben und der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens zugeordnet worden. Luis Arturo Herrera, der Chef dieser Abteilung, hatte sich an diesem Morgen um 9.46 Uhr mit dreien seiner Mitarbeiter in diesen Wagen gesetzt. Eine Viertelstunde zuvor hatte er auf seinem Diensthandy einen Anruf aus El Salvador erhalten. Der Anrufer beschrieb ihm den Wagen Pichintes: Marke, Modell, Farbe, Nummernschild. Er sagte, drei der Insassen würden sich als Abgeordnete des Zentralamerikanischen Parlaments zu erkennen geben, der vierte sei der Fahrer. Bevor Herrera mit seinen Männern zum neuen Yaris eilte, sagte er den anderen in seiner Abteilung, er werde im Osten des Landes eine Bande von Lastwagenräubern jagen. Dort verschwindet so gut wie täglich ein vollbeladener Sattelschlepper.

Doch Herrera und seine Mitarbeiter fahren nicht in den Osten. Um 10.03 Uhr werden sie im Viertel Vista Hermosa im Süden der Hauptstadt von einer Verkehrsstreife wegen überhöhter Geschwindigkeit geblitzt. Um 10.06 Uhr warten sie vor dem Hotel Quinta Real, in dem sich die drei salvadorianischen Abgeordneten einquartiert haben. Kurz darauf kommen die heraus und steigen in den Landcruiser. Der Yaris nimmt die Verfolgung auf. Beide Autos rasen um 10.11 Uhr über eine rote Ampel vor dem Büroeinrichtungshaus The Office Depot und werden geblitzt. Neun Minuten später hat der Yaris den Landcruiser überholt. Er schneidet ihm den Weg ab und zwingt ihn zum Halten. Die vier Polizisten in Zivil springen aus ihrer Limousine. Zwei zerren Pichinte und den Fahrer aus dem Landcruiser und schieben sie in den Yaris. Die anderen beiden steigen in den Geländewagen. Nach wenigen Minuten rasen beide Autos weiter in Richtung El Salvador.

Bei Kilometer 25 biegen die Wagen nach rechts in Richtung Santa Helena Barilla ab und parken kurz darauf auf einer hinter Gebüsch versteckten Wiese. Die Männer steigen aus den Autos. Herrera und seine Männer verprügeln die Salvadorianer, mit Fäusten, Fußtritten, auch mit dem Knauf der Pistole. Immer wieder fragen sie, wo das Kokain versteckt sei. Eine fünf Millionen Dollar schwere Ladung müsse in dem Landcruiser sein, hatte der Anrufer aus El Salvador Herrera gesagt. Oder eben der Gegenwert in grünen Scheinen. Die Abgeordneten schweigen beharrlich. Schließlich reißen zwei der Polizisten die Verkleidung des Landcruisers auf. Ob sie dabei etwas finden, ist bis heute nicht bekannt.

Drei Stunden später, um 13.37 Uhr, fahren die beiden Wagen weiter auf der Landstraße und biegen bei El Jocotillo auf den staubigen Feldweg ab, der zur Finca Las Conchas führt. Unterwegs ruft Herrera zwei Kollegen an. Sie sollen zur Finca Las Conchas kommen und reichlich Benzin mitbringen. Im Schutz von ein paar Sträuchern gibt er um 15.26 Uhr das Zeichen zum Anhalten. Jetzt geht alles sehr schnell. Der Beifahrer im Landcruiser erschießt die beiden Salvadorianer auf der Rückbank. Dann schleppen die Kripobeamten die anderen beiden vor die Fahrer- und Beifahrertür und erschießen sie dort. Kurz darauf trifft ein beiger Landcruiser mit den beiden von Herrera angeforderten Kollegen ein. Sie bringen einen großen Kanister Benzin. Die Leichen werden damit überschüttet, der Wagen wird angezündet. Um 15.36 Uhr machen sich der Yaris und der beige Landcruiser auf den Weg zurück nach Guatemala-Stadt. Herrera bringt den Yaris noch kurz bei einer Autowaschanlage vorbei, bevor er ihn wieder beim Hauptquartier der Kriminalpolizei abstellt. Hätte man in dieser gottverlassenen Gegend nur die Leichen, nicht aber Pichintes Landcruiser gefunden, wäre jeder in Zentralamerika von einem normalen Autodiebstahl ausgegangen. Wer es sich aber leisten kann, einen teuren Wagen abzufackeln, der muss sehr viel Geld haben. Und sehr viel Geld hat die Drogenmafia.

Es gab schon lange Gerüchte, Pichinte habe diesbezüglich pikante Kontakte. Der Mann mit dem sauber gestutzten Vollbart hatte zu Hause im Städtchen Cojutepeque, einem Zentrum der salvadorianischen Viehwirtschaft, ein kleines Fabrikchen für breitkrempige Hüte. Die Geschäfte gingen schlecht. Auch in El Salvador setzen sich die Cowboys heute lieber eine Baseballkappe als einen Sombrero auf. Viele Hutmacher haben schon dichtgemacht. Pichinte aber schien es gutzugehen.

Doch Präsident Saca zerstreute alle bösen Gerüchte. Er ist sicher, dass seine drei Parteifreunde und ihr Fahrer von Herrera und seinen Schergen verwechselt und gewissermaßen aus Versehen umgebracht wurden. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem guatemaltekischen Präsidenten Oscar Berger sagte er: „Alles deutet darauf hin, dass die Polizisten etwas suchten. Als sie nichts fanden, merkten sie, dass sie sich getäuscht hatten. Frustriert beschlossen sie, die vier Männer zu opfern, sie zu erschießen und das Auto anzuzünden. Eine riesige Barbarei.“

Herrera und seine drei Mitarbeiter waren schnell geschnappt, anhand der Blitzfotos von der Verfolgungsjagd und den vom GPS im Yaris gelieferten Daten. Und es gab ein paar Augenzeugen der Entführung. Am Mittwoch früh, bei einer routinemäßigen Besprechung in der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, wurden sie verhaftet. Vor einem Ermittlungsbeamten gestanden sie die Tat. Erwin Sperisen, oberster Chef der guatemaltekischen Polizei, war nicht einmal sonderlich überrascht: „Es gibt mehr als 2.000 Polizisten, die mit Entführerbanden, Drogenhändlern, Autodieben und Erpressern zusammenarbeiten.“ Vor dem Untersuchungsrichter aber schwiegen die Verhafteten. „Bevor ich rede, bringe ich mich lieber gleich um“, sagte einer von ihnen. „Sonst werden sie mich töten.“ Man brachte die vier ins Hochsicherheitsgefängnis El Boquerón, 66 Kilometer südöstlich der Hauptstadt. Dort wurden sie hinter acht verschlossenen Türen in Zellen eingesperrt.

Sonntag, 25. Februar, 14 Uhr. In El Boquerón ist Besuchszeit. Freundinnen und Angehörige der 165 dort einsitzenden Mitglieder der Jugendbande Mara Salvatrucha bringen gebratene Hühnchen, Videos und Zigaretten. Auch der Vater eines der verhafteten Polizisten will seinen Sohn besuchen, wird aber nicht vorgelassen.

Vladimir López y López, der Oberschließer des Gefängnisses, hatte an diesem Sonntag um 11.30 Uhr eine Aktennotiz aus dem naheliegenden Polizeikommissariat zugestellt bekommen. Es gebe einen Plan, Herrera und seine drei Kollegen zu ermorden, hieß es darin. López y López setzte einen Eingangsstempel auf das Schreiben, zeichnete es ab und legte es zu den Akten. Zwei Stunden später fallen in der Nähe des Gefängnisses zwei Pick-ups mit Doppelkabine und abgedunkelten Scheiben auf. Die Männer in einem der Wagen haben sich schwarze Skimützen über das Gesicht gezogen.

Gegen 15 Uhr hält einer der Pick-ups vor dem Haupttor des Hochsicherheitsgefängnisses. Vier Maskierte steigen aus. Jeder hat eine Kalaschnikow AK-47 in der Hand und einen Rucksack auf dem Rücken. Niemand stellt sich ihnen in den Weg. Ein Schließer öffnet ihnen die acht Türen, die auf dem Weg zu den gefangenen Polizisten zu passieren sind. Dann fällt der Strom aus, es wird dunkel. Wachmänner treiben die Besucher der anderen Gefangenen schnell aus den Höfen. Die hören noch, wie drinnen Schüsse fallen.

Die Leichen von Herrera und seinen drei Kollegen werden erst sechs Stunden später von der Feuerwehr geborgen. Zunächst nämlich kommt es zu einer Gefangenenmeuterei. Die in El Boquerón sitzenden Mitglieder der Mara Salvatrucha wissen, dass jeder in Guatemala verübte Mord erst einmal ihnen in die Schuhe geschoben wird. Also nehmen sie den Oberschließer und vier weitere Wärter als Geiseln und verlangen Verhandlungen mit dem staatlichen Menschenrechtsbeauftragten. Um 21 Uhr lassen sie Feuerwehrmänner in die Zellen der Polizisten. Die finden dort vier grausig zugerichtete Leichen, darum herum 32 Neunmillimeterhülsen. Der Obduktionsbericht stellt später fest, dass die vier Häftlinge aus einer Distanz von rund 40 Zentimetern erschossen und danach mit langen Messern verstümmelt wurden. Allein die Leiche Herreras hatte auf der rechten Körperseite mehr als 35 Stich- und Schnittverletzungen.

Am nächsten Morgen lenken die Meuterer ein und lassen ihre Geiseln frei. Der Aufstand hat ihnen nichts eingebracht. Innenminister Carlos Vielmann erklärt vor der Presse: „Ein Gruppe von Insassen hat vorübergehend gewaltsam die Kontrolle über das Gefängnis an sich gerissen, und es besteht die Möglichkeit, dass sie den Tod der vier Polizisten verursacht hat.“ Das Innenministerium schließt einen Überfall von außerhalb des Gefängnisses aus. Und was war mit den Maskierten mit den Kalaschnikows? Vielmanns Erklärung: Es habe da ein Problem mit einem verstopften Klo gegeben, das dringend behoben werden musste. Deshalb habe man Handwerker gerufen. Immerhin gestand er ein: „Die hätten da nicht hineingehen sollen.“ Bei dieser Erklärung bleibt offen, woher die 9-Millimeter-Patronenhülsen kamen. Bei zwei Durchsuchungen aller Zellen wurde keine einzige Kalaschnikow gefunden.

Präsident Antonio Saca im benachbarten El Salvador tobte: „Es gibt staatliche Würdenträger in Guatemala, die vor Gericht gehören. Die traurige Geschichte der Straffreiheit muss endlich aufhören.“ Keine zwei Wochen vor dem Mord an seinen drei Parteifreunden hatte er die Aufforderung einer UNO-Delegation, doch endlich das 1993 erlassene Amnestiegesetz aufzuheben, das bis heute die Kriegsverbrecher des 1992 zu Ende gegangenen Bürgerkriegs schützt, barsch zurückgewiesen. Stattdessen setzt er sich dafür ein, den Parteigründer und das Mitglied der Todesschwadron Roberto D’Aubuisson posthum zum Ehrenbürger El Salvadors zu erklären. Am 20. Februar hatte Saca auf dem Heldenfriedhof am Grab seines Idols lauthals die von D’Aubuisson so geliebte Arena-Hymne gesungen: „El Salvador wird das Grab der Roten sein.“ So war das in den Achtzigerjahren. Damals wurde aus politischen Gründen gemordet. Die Zahl der Morde hat sich seither kaum verändert. Aber politische Gründe gibt es nur noch selten.

TONI KEPPELER, 50, von 1994 bis 2001 Zentralamerika-Korrespondent der taz, ist heute Autor der Reportage-Agentur Zeitenspiegel und noch immer viel in Lateinamerika unterwegs