„Ich hatte immer Glück in Deutschland“

Heinrich Heine war für für den ukrainischen Zwangsarbeiter Alexej Ponomarjow ein Symbol deutscher Kultur, die er gegen die NS-Barbaren verteidigte. Auch als Zwangsarbeiter und KZ-Häftling. „Alexej hat uns seine Lebensgeschichte erzählt, als er auf Einladung der Geschichtsgruppe der Stahlwerke und mit finanzieller Unterstützung des Unternehmens im Sommer 2003 erneut Bremen besuchte“, sagen die drei ehemaligen Klöckner-Arbeiter Eike Hemmer, Robert Milbradt und Gerd Wiesner. Sie schrieben diese Lebensgeschichte für die taz auf, nachdem Ponomarjow im Januar 2007 gestorben war

Auf Alexejs Karteikarte in der Personalabteilung der Hütte ist als Tag der letzten Schicht der 9. Januar 1944 vermerkt und die Bemerkung „abgerückt“. Hinter dem Kürzel „abgerückt“ verbargen sich viele Gründe für das Fehlen von ausländischen Arbeitern. Vielfach kamen sie aus dem Urlaub nicht zurück, versuchten zu fliehen oder wurden – wie Alexej – von der Gestapo verhaftet. Wegen eines Schluckes Milch. Alexej Ponomarjow war einer von 70.000 Zwangsarbeitern in Bremen.

Wegen eines Pferdes als Kulak deportiert

Er war 1924 als Sohn von Bauern in der Kosakensiedlung Stanitscho-Luganskaja geboren. Seinen Großvater tötete eine deutsche Kugel als Soldat im ersten Weltkrieg. Alexejs Vater musste mit 14 Jahren den Hof übernehmen. Er baute Himbeeren an. Für die Ernte stellte er zeitweise Helfer ein – und er konnte sich ein Pferd anschaffen. Das genügte, um ihn während der Kollektivierung der Landwirtschaft als Kulaken, als „Ausbeuter“ zu enteignen. Die Stalinschen Behörden deportierten ihn mit der gesamten Familie nach Sibirien. Dort starben Alexejs zwei Brüder an Typhus. Später durfte die Familie zurückkehren und Alexejs Vater brachte die Familie als Werkmeister in einer Kohlenzeche durch. Bis 1942 die deutschen Eroberer in die Ukraine kamen.

Die deutschen Besatzungsbehörden legten Listen der jungen arbeitsfähigen Männer und Frauen an und transportierten sie in Güterwaggons unter Bewachung von deutschen Soldaten ins „Reich“ ab. Konnten sie nicht fliehen? „Ja“, berichtet Alexej, „aber die Deutschen hatten gedroht, in diesem Fall die Eltern zu verhaften.“ Diese Drohung wirkte. Niemand floh aus dem Transport. Alexej kam mit 30 bis 40 weiteren Ukrainern nach Bremen und fing am 3. Oktober 1942 auf der Norddeutschen Hütte an. Mit ihm sind an diesem Tag weitere 73 Ostarbeiter auf der Hütte eingestellt worden.

Die Hütte gehörte damals zum Krupp-Konzern und arbeitete wie die anderen Krupp-Betriebe für die deutsche Rüstung. Sie erzeugte besondere Eisenlegierungen für die Waffenherstellung, daneben Zement für Bunkerbauten und versorgte einen Teil Bremens mit Gas aus der Kokerei. Bremen war eine der bedeutendsten deutschen Rüstungszentren und Krupp als Haupteigentümer der Deschimag/AG-Weser, der Unterweserflug und weiteren kleineren Betrieben einer der Hauptprofiteure der Kriegsindustrie. Alle Betriebe beschäftigten ausländische Arbeiter, die meisten von ihnen wurden zwangsweise zur Arbeit in Deutschland getrieben. Rund 70.000 ausländische Zwangsarbeiter mussten während des Krieges in Bremer Betrieben arbeiten. Auf der Norddeutschen Hütte bestand die Arbeiterbelegschaft 1944/45 zu mehr als 50 Prozent aus Zwangsarbeitern. Sie hatten die Lücken zu füllen, die durch die Einberufungen zur Wehrmacht in der deutschen Stammbelegschaft aufgerissen waren.

Alexej arbeitete im Laboratorium des Zementwerkes und hatte das Glück, einen verständnisvollen Chef zu finden. Der Leiter des Labors war Holländer. Er holte Alexej häufiger in sein Büro und unterhielt sich mit ihm über seine Heimat.

Der Wochenverdienst betrug knapp 10 Reichsmark. Unterkunft und Verpflegung wurden davon abgezogen. Untergebracht waren die ukrainischen Zwangsarbeiter auf dem Hüttengelände und in einem Lager im nahen Stadtteil Grambke auf dem Grundstück eines Gastwirtes. Das Lager war eingezäunt und wurde von einem älteren Volksdeutschen polnischer Herkunft bewacht. Seine Aufgabe war es, die Zwangsarbeiter mit der Straßenbahn zur Arbeitsstelle zu begleiten; später durften sie auch alleine fahren. Ihr Leben war reglementiert durch strikte Vorschriften und Verbote. Alle zielten darauf ab, die Menschen aus der Sowjetunion in den Augen der deutschen Bevölkerung zu Wesen minderen Rechts zu stempeln. Sichtbar mussten sie auf der Kleidung das Abzeichen „Ost“ tragen. Es war ihnen verboten, sich nachts außerhalb ihrer Unterkunft aufzuhalten, den Arbeitsort ohne Genehmigung des Polizeipräsidenten zu verlassen oder ohne Genehmigung öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen oder öffentliche Grün- oder sonstige Erholungsanlagen zu betreten.

Für die von der Nationalsozialistischen Propaganda zu „Untermenschen“ gestempelten Arbeiter aus der Sowjetunion ging es in Deutschland auch darum, ihre menschliche Würde zu bewahren. Alexej erzählt eine bezeichnende Episode. Im Labor berichtete er, dass er in der Schule Deutsch gelernt und auch Heinrich Heine gelesen habe. Er trug dann das Gedicht von der Loreley vor. Heine war verboten. Die Umstehenden waren erschrocken und zwei junge Frauen haben sich gleich versteckt. Aber weil niemand von den NS-Scharfmachern, die es im Betrieb gab, zu sehen war, haben sie sich schließlich beruhigt und gemeinsam das Lied von der Loreley gesungen. Heine war für Alexej ein Symbol deutscher Kultur, die er gegen die NS-Barbaren verteidigte.

In der Praxis ließen sich die NS-Verbote wegen der großen Menge ausländischer Arbeiter nicht immer durchsetzen. Alexej bestach den Torwärter mit ein paar Zigaretten, und der ließ ihn öfter allein in die Stadt. Alexej zog los, die Jacke mit dem Abzeichen „Ost“ auf links gewendet um nicht als Ostarbeiter erkannt zu werden. Meistens dienten diese Ausflüge dazu, etwas zum Essen zu ergattern. „Wir hatten immer Hunger“, berichtet Alexej. Morgens gab es nur ein Stück Brot, tagsüber nichts und abends im Lager erhielt man meistens nur eine Gemüsesuppe, die von der Kantine der Hütte ins Lager geliefert wurde. Die ukrainischen Arbeiter suchten deshalb auf jede Art und Weise zusätzliches Essen zu organisieren. Man konnte zum Beispiel auf dem Markt am Rathaus von einem Bauern Kartoffeln ohne Lebensmittelkarten bekommen. In einer Bäckerei schnitt die Verkäuferin Randstücke vom Brot oder auch Kuchen ab, die sie ohne Marken verkaufte. „Das war dann ein großer Feiertag“, berichtet Alexej. Es ging aber nur, wenn niemand anderes im Laden war.“ Der Hunger war es schließlich auch, der Alexej in die Fänge der Gestapo fallen ließ.

Wegen eines Schluckes Milch ins KZ

Wenn die Zwangsarbeiter von der Arbeitsstelle zum Lager zurückgingen, kamen sie an der Milchkanne eines Bauern vorbei. Wie offensichtlich auch andere Arbeiter zapfte sich Alexej eines Morgens nach der Nachtschicht aus dieser Kanne etwas Milch in ein Gefäß ab, das er aus dem Labor mitgenommen hatte. Plötzlich sprang ein Polizist aus dem Gebüsch, der dort auf der Lauer gelegen hatte. Mit gezogener Pistole führte er Alexej ab. Damit begann die Tortur durch die Mühlen der Gestapo. Endstation war das KZ Neuengamme.

In Neuengamme erhielt Alexej die Nummer 25965. Fortan war er kein Mensch mit Vor- und Zunamen mehr sondern nur noch eine Nummer. Er hat diese Nummer sein ganze Leben nicht mehr vergessen. Alexej musste in der Tongrube für das Klinkerwerk auf dem KZ-Gelände Ton verladen und transportieren. Bei dieser Arbeit kamen viele Häftlinge vor Erschöpfung um oder wurden von sadistischen Kapos oder SS-Leuten umgebracht. Alexej war nach wenigen Wochen total entkräftet, seine Beine schwollen an. Gerettet wurde er durch den Schreiber André Mandrycxs, einem Häftling aus Belgien. Er sorgte dafür, dass Alexej ins Kommando „Metallwerk“ versetzt wurde. Es handelte sich um ein Zweigwerk der Walther-Werke, in dem Pistolen und Gewehre produziert wurden. Im Werk wurde weniger geschlagen und die Häftlinge waren der Witterung weniger ausgesetzt. So konnte Alexej überleben.

Rettung beim Schiffsuntergang

Im April 1945, während die Alliierten Bremen bereits eingenommen haben, spielt sich für die Häftlinge des KZ Neuengamme eine letzte Tragödie ab. Das Lager wird geräumt, die Häftlinge zur Ostsee geschafft. Im Lübecker Hafen werden sie auf drei Schiffe getrieben. Am 3.Mai befinden sich an Bord der „Athen“ 1.998 Häftlinge, auf dem Frachter „Thielbek“ etwa 2.800 und rund 4.600 auf dem Passagierdampfer „Cap Arcona“, insgesamt also rund 9.400 Gefangene, dazu fast 700 Mann Bewachungspersonal und ca. 100 Mann Schiffsbesatzung. An diesem Tag bietet Großadmiral Dönitz die Kapitulation der deutschen Truppen in Norddeutschland an. Doch die Verhandlungen verzögern sich. Gegen 14.30 Uhr greifen britische Jagdbomber die in der Bucht vor Anker liegenden Schiffe mit Bordkanonen und Raketen an. Bis heute sind die Ursachen des schrecklichen Infernos nicht restlos geklärt. Noch immer weigert sich die Royal Air-Force, die Akten über den Fall freizugeben. Die „Cap Arcona“ wird in Brand geschossen, die Thielbek“, auf der Alexej sich befindet, sinkt. Mehr als 7.000 KZ-Häftlinge kommen in der Ostsee um. Einer der wenigen, die sich von der sinkenden „Thielbek“ retten können, ist Alexej Ponomarjow.

Alexej schildert die dramatischen Stunden: „Als die Flugzeuge erschienen, sagte jemand: Das sind englische Flugzeuge. Alle schrieen: ,Wir sind frei.‘ Aber die Flugzeuge begannen, das Schiff zu beschießen. Bomben durchschlugen das Deck und explodierten im Innern. Auf dem Deck lagen tote Hunde, tote Wächter und Häftlinge. Ich zog mich nackt aus und sprang ins Wasser. Wir bemerkten, dass aus dem Hafen Schiffe ausliefen.“ Einer dieser Kutter fischte Alexej auf.

Aus dem KZ in die Uniform der roten Armee

Aber die Freiheit währt nur kurze Zeit. Aus dem Auffanglager transportiert man die sowjetischen Kriegsgefangenen und Häftlinge auf Lastwagen in die sowjetische Besatzungszone. Viele der Geretteten werden unter der Beschuldigung, mit den Deutschen kollaboriert zu haben, nach Sibirien verbannt. Alexej dagegen schicken die sowjetischen Behörden nicht in die Heimat zurück, sondern man steckt ihn nach fast vier Jahren Zwangsarbeit und KZ-Haft in die Uniform der Sowjetischen Armee. Zwei Jahre muss er als Besatzungssoldat in deren Zone Dienst tun. Alexej sagt darüber: „Ich hatte immer Glück in Deutschland. Vielleicht war ich ein Sonntagskind.“ Denn als er schließlich im Range eines Gefreiten aus der Armee entlassen wird, hat er ordentliche Entlassungspapiere und der KGB lädt ihn nur zu einer Zeugenaussage vor.

Er fand seine Eltern wieder und begann eine Ausbildung an einer Fachschule für Forstwirtschaft. Für die erlittene KZ-Haft bekam er eine Entschädigung von umgerechnet 900 Mark.

Vielen der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter geht es weitaus schlechter. Besonders Frauen leben in bitterer Armut. Die meisten sind krank und müssen von einer winzigen Rente leben. Die ehemalige ukrainische Zwangsarbeiterin Paulina Vasiljewna Kroschko, die ebenfalls auf der Norddeutschen Hütte arbeitete, schrieb uns 2006, dass sie mit einer Rente von 350 Griwna existieren müsse, umgerechnet etwa 54 Euro, von der ein großer Teil für Medikamente und Miete weggeht.

Besuch mit der Enkelin Olga in Bremen

Alexej konnte 2003 bei seinem Besuch in Bremen seine 16jährige Enkelin Olga nach Bremen mitbringen. Alexejs Herzenswunsch war es, ihr die Stätten seiner Zwangsarbeit und seines Leidens im KZ zu zeigen. Aber für seine Enkelin Olga war das Zusammensein mit ihrer Bremer Brieffreundin Swetlana mindestens ebenso wichtig wie die Begleitung ihres Großvaters, eine Tatsache, die Alexej Augenblicke voller Wehmut bescherte. In einem unserer zahlreichen Gespräche klagte er auch mal: „Ich verstehe es nicht, ihr habt den Krieg verloren, aber es geht euch sehr gut.“ Denn er, der auf der Seite der Sieger stand, musste in der Ukraine von umgerechnet 65 Euro im Monat leben. In einem Brief an uns, seine Bremer Freunde, wollte Alexej im Januar sich für unsere Weihnachtswünsche bedanken. Er hat diesen Brief nicht mehr vollenden können.

Die Karteikarten der Zwangsarbeiter haben im Lohnbüro der Stahlwerke die Befreiung 1945 überdauert. Die ehemaligen Betriebsräte Robert Milbradt und Eike Hemmer konnten sie auswerten. Ihr Bericht über die Zwangsarbeit auf der Norddeutschen Hütte erscheint im Herbst in der Edition Temmen